Das Sündenkonzept
Einer der schwierigsten Bereiche des menschlichen Daseins ist das Problem der Sünden oder des Bösen auf der Welt. Üblicherweise wird angenommen, dass das Sündigen zur Lebenszeit Adams und Evas im Garten Eden begann. Dieses Ereignis führte zum Sündenfall und brandmarkte seither das Menschengeschlecht mit Schuld, Makel und Bestürzung.
Der Islâm vertritt in dieser Angelegenheit einen einzigartigen Standpunkt, der von keiner anderen uns bekannten Religion geteilt wird. Der Qurân besagt, dass Adam und Eva von Gott dazu angewiesen wurden im Garten Eden zu verweilen, dessen Erzeugnisse nach Belieben zu genießen und sich großzügiger Versorgung und Behaglichkeit sicher zu sein. Allerdings wurden sie davor gewarnt, sich einem bestimmten Baum zu nähern, um nicht in Unheil und Unrecht zu verfallen. Der Satan zog sie dann in den Bann der Versuchung und bewirkte, dass sie ihren freudvollen Zustand verloren. Sie wurden des Gartens verwiesen und zur Erde hinuntergebracht, um zu leben, zu sterben, und schließlich für das Letzte Gericht wieder hervorgebracht zu werden. Nachdem ihnen klar geworden war, was sie getan hatten, schämten sie sich, fühlten sich schuldig und bereuten es. Sie baten Gott um Gnade und ihnen wurde vergeben. (Sûra 2:35-38; 7:19-25; 20:117-123).
Dieses symbolbehaftete Ereignis ist sehr aufschlussreich. Es besagt, dass der Mensch unvollkommen ist und immerzu begehrt, selbst wenn er im Paradies leben würde. Das Begehen einer Sünde oder eines Fehlers, wie es Adam und Eva taten, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass es das menschliche Herz abstumpfen lässt, spirituelle Neugestaltung verhindert oder moralische Höherentwicklung bremst. Vielmehr besitzt der Mensch ausreichend Empfindungsvermögen, um seine Sünden und Unzulänglichkeiten zu erkennen. Wichtiger noch: Er kann erkennen, wohin und an wen er sich zur Orientierung wenden sollte. Wesentlich wichtiger ist die Tatsache, dass Gott immerzu bereit ist, die aufrichtigen Rufe derjenigen, die Seine Hilfe ersuchen, zu erwidern. Er ist so gnädig und barmherzig, dass Seine Vergebung umfangreich und Seine Barmherzigkeit allumfassend ist (Sûra 7:156). Eine letzte aufschlussreiche Interpretation des Ereignisses besagt, dass dem Islâm Diskriminierung auf Grund des Geschlechts sowie Erbschuld oder Erbsünde fremd sind.
Das Konzept der Erbsünde oder vererbter Schuld hat keinen Platz in den Lehren des Islâm. Der Mensch wird laut Qurân (Sûra 30:30) und dem Propheten in einem natürlichen Zustand der Reinheit oder „Fitra“ geboren, sprich im Islam oder in der Ergebung in Gottes Willen und Gesetz. Was aus dem Menschen nach dessen Geburt wird, ist das Ergebnis äußerer Einflüsse und sich aufdrängender Faktoren. Um die Angelegenheit mit modernen Denkansätzen zu konkretisieren: Die menschliche Natur ist formbar und der Sozialisierungsprozess - insbesondere das häusliche Umfeld - ist entscheidend. Er spielt bei der Bildung der menschlichen Persönlichkeit und der Entwicklung eines tugendhaften Charakters eine entscheidende Rolle. Dennoch erkennt er der Einzelperson nicht die Entscheidungsfreiheit ab und befreit ihn nicht von seiner Verantwortung. Vielmehr stellt er eine Befreiung von der schweren Last der Erbschuld oder der instinktiven Versündigung dar.
Gott ist laut Definition gerecht, weise, barmherzig, gnädig und vollkommen. Er erschafft den Menschen, indem Er ihm von Seinem eigenen Geist einhaucht (Sûra 15:29; 32:9; 66:12). Da Gott der absolut grenzenlos Gütige ist und Sein Geist absolut vollkommen und da der Mensch mittels Schöpfung etwas vom Geist Gottes erhält, behält er zwangsläufig zumindest einen Teil dieses guten Geistes des Schöpfers. Dieser könnte der Grund für die guten Veranlagungen des Menschen und für dessen Verlangen nach Spiritualität sein. Andererseits erschafft Gott den Menschen, damit dieser Ihm dient, und nicht, damit er Sein Gleichgestellter, Nebenbuhler, die perfekte Verkörperung oder der absolute Inbegriff Seiner Güte ist. Dies bedeutet, dass unabhängig davon, wie gut oder perfekt ein Mensch durch die Schöpfungsgnade auch ist, er immer noch weit von der Güte und Vollkommenheit des Schöpfers entfernt bleibt. Der Mensch ist zwar sicherlich nicht völlig bar derartiger Fähigkeiten. Diese sind jedoch begrenzt und der endlichen Veranlagung, Belastbarkeit und Verantwortlichkeit des Menschen angemessen. Dies könnte die Unvollkommenheit und Fehlbarkeit des Menschen erklären.
Allerdings sind Unvollkommenheit und Fehlbarkeit nicht das Äquivalent von Sünde oder gleichbedeutend mit Straffälligkeit – zumindest nicht im Islam. Wenn auch der Mensch unvollkommen ist, so wird er von Gott nicht hilflos oder allein gelassen, sodass er seinen Unzulänglichkeiten zum Opfer fällt. Er wird durch Offenbarungen ermächtigt, durch Vernunft unterstützt, durch die Entscheidungsfreiheit bekräftigt und durch verschiedene soziale und psychische Veranlagungen dazu geführt, relative Vollkommenheit anzustreben und zu erlangen. Die ständige Anziehung zwischen den Kräften des Guten und des Bösen stellt den Kampf des Lebens dar. Sie bietet dem Menschen etwas, dem er freudig entgegensehen kann, Ideale, die er anstreben kann, Arbeit, die er verrichten kann, und eine Rollen, die er übernehmen kann. Sie macht sein Leben interessant und bedeutungsvoll, nicht monoton und stagnierend. Zum anderen gefällt es Gott, Seine anbetend Dienenden in einem Zustand des spirituellen und moralischen Erfolgs zu sehen.
Gemäß den islâmischen Moralmaßstäben ist es keine Sünde für den Menschen, unvollkommen oder fehlbar zu sein. Dies ist Teil seiner Veranlagung als endliches und begrenztes Geschöpf. Allerdings ist es eine Sünde, die Wege und Mittel zur Erlangung relativer Vollkommenheit zu besitzen und sich zu entschließen, diese nicht anzustreben. Eine Sünde ist jeder Handlungsakt, Gedanke oder Wille, der (1) beabsichtigt ist, (2) gegen das unmissverständliche Gesetz Gottes verstößt, (3) das Recht Gottes oder das Recht des Menschen verletzt, (4) der Seele oder dem Körper schadet, (5) wiederholt begangen wird und (6) im Normalfall vermeidbar ist. Dies sind die Komponenten der nicht angeborenen oder nicht vererbten Sünde. Allerdings ist es wahr, dass der Mensch die potenzielle Fähigkeit zum Sündigen in sich trägt; diese ist jedoch nicht größer als seine Fähigkeit zu Frömmigkeit und Güte. Entschließt er sich dazu, das Potenzial zur Sünde an Stelle des Potenzials zur Güte zu verwirklichen, so ergänzt er seine reine Veranlagung mit einem neuen externen Element. Für dieses ergänzte externe Element ist der Mensch allein verantwortlich.
Im Islâm gibt es große und kleine Sünden sowie Sünden gegen Gott und Sünden sowohl gegen Gott und als auch gegen den Menschen. Alle Sünden gegen Gott - außer einer – sind vergebbar, wenn der Sündige sich aufrichtig um Vergebung bemüht. Der Qurân besagt, dass Gott die Sünde des „Schirk“ (Polytheismus, Pantheismus, Trinität usw.) wahrhaftig nicht vergibt. Er vergibt jedoch Sünden außer dieser und verzeiht, wem Er will. Kehrt der Polytheist oder Atheist jedoch zu Gott zurück, so wird ihm seine Sünde vergeben. Sünden gegen Menschen sind nur dann vergebbar, wenn der Betroffene dem Sünder verzeiht oder wenn die rechtmäßigen Entschädigungen und/oder Strafen erbracht oder vollzogen werden.
Abschließend lässt sich sagen, dass Sünden erworben werden und nicht angeboren sind, entstehen und nicht eigen sind sowie vermeidbar und nicht unabwendbar sind. Sie sind ein absichtlicher, bewusster Verstoß gegen Gottes unmissverständliches Gesetz. Wenn der Mensch etwas tut, was wirklich durch natürliche Instinkte oder absolut unwiderstehliche Triebe und unkontrollierbares Verlangen ausgelöst wird, stellt diese Handlung im Islâm keine Sünde dar. Ansonsten wäre Gottes Zweck sinnlos und die Verantwortlichkeit des Menschen umsonst. Gott verlangt vom Menschen nur das, was innerhalb dessen Möglichkeiten und Einflussbereichs liegt.
Das Freiheitskonzept
Freiheit wird vielen Einzelpersonen, Gruppen und Nationen sowohl als ein Konzept als auch als ein Wert verwehrt. Sie wird oft missverstanden und missbraucht. Fakt ist, dass der Mensch in keiner menschlichen Gesellschaft im absoluten Sinne des Wortes frei sein kann. Wenn eine Gesellschaft überhaupt funktionsfähig sein soll, muss es Beschränkungen der einen oder anderen Art geben.
Abgesehen von diesem generellen Gedanken lehrt der Islam Freiheit, hält sie in Ehren und gewährt sie sowohl dem Muslim als auch dem Nicht-Muslim. Das islamische Freiheitsverständnis bezieht sich auf alle freiwillig gewollten Handlungen der Menschen aller Gesellschaftsschichten. Wie bereits erwähnt, ist jeder Mensch frei mit der „Fitra“, also mit einer reinen natürlichen Veranlagung geboren. Dies bedeutet, dass der Mensch frei von Unterjochung, Sünde, vererbter Minderwertigkeit und abstammungsbedingten Erschwernissen geboren wird. Sein Recht auf Freiheit ist unantastbar, solange er nicht absichtlich gegen Gottes Gesetz verstößt oder die Rechte anderer verletzt.
Eines der Hauptziele im Islâm besteht darin, den Verstand von Aberglauben und Ungewissheiten, die Seele von Sünde und Korruption, das Gewissen von Bedrängnis und Angst und sogar den Körper von Funktionsstörungen und Degeneration zu befreien.
Der Kurs, den der Islâm dem Menschen zur Erlangung dieses Ziels vorgibt, enthält tiefgreifende intellektuelle Bemühungen, regelmäßige spirituelle Rituale, bindende moralische Prinzipien und sogar Diätvorschriften. Verfolgt der Mensch diesen Kurs gewissenhaft, kann er sein endgültiges Ziel der Freiheit und Emanzipation nicht verfehlen.
Die Freiheitsfrage in Bezug auf Glauben, Anbetung und Gewissen ist ebenfalls von höchster Bedeutung im Islâm. Jeder Mensch ist dazu berechtigt, seine Glaubens-, Gewissens- und Anbetungsfreiheit zu praktizieren. Gott sagt im Qurân: Es gibt keinen Zwang im Glauben. (Der Weg der) Besonnenheit ist nunmehr klar unterschieden von (dem der) Verirrung. Wer also falsche Götter verleugnet, jedoch an Allâh glaubt, der hält sich an der festesten Handhabe, bei der es kein Zerreißen gibt. Und Allâh ist Allhörend und Allwissend. (Sûra 2:256).
Der Islâm vertritt diesen Standpunkt, da Religion auf Glauben, Willen und Hingabe beruht. Diese wären, sofern durch Zwang bedingt, bedeutungslos. Außerdem präsentiert der Islâm Gottes Wahrheit als Chance und überlässt es dem Menschen, seinen eigenen Kurs zu wählen. Der Qurân besagt: … (Es ist) die Wahrheit von eurem Herrn. Wer nun will, der soll glauben, und wer will, der soll ungläubig sein… (Sûra 18:29).
Das islâmische Freiheitskonzept ist ein Glaubensartikel, eine ehrwürdige Anordnung des Allwaltenden Schöpfers. Es ist auf folgenden Grundprinzipien errichtet: Erstens: Das Gewissen des Menschen ist einzig Gott unterworfen, Dem gegenüber jeder Mensch unmittelbar verantwortlich ist. Zweitens: Jeder Mensch ist persönlich für seine Taten verantwortlich und allein zur Ernte der Früchte seiner Arbeit berechtigt. Drittens: Gott hat dem Menschen die Vollmacht erteilt, für sich selbst zu entscheiden. Viertens: Der Mensch ist mit ausreichend spiritueller Leitung und verstandesmäßigen Fähigkeiten ausgestattet, die ihn dazu befähigen, verantwortungsbewusste und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Dies ist das Fundament des islamischen Freiheitskonzeptes und dies ist die Wertigkeit von Freiheit im Islâm. Sie ist das natürliche Anrecht des Menschen, ein spirituelles Privileg, ein moralisches Vorrecht und in erster Linie eine religiöse Pflicht. Innerhalb des Rahmens dieses islamischen Freiheitskonzeptes gibt es keinen Platz für religiöse Verfolgung, Klassenkämpfe oder Rassenvorurteile. Das Freiheitsrecht des Einzelnen ist so unantastbar wie dessen Recht auf Leben; Freiheit ist das Äquivalent des Lebens an sich.
Das Gleichheitskonzept
Ein Grundbestandteil des islamischen Wertesystems ist das Gleichheitsprinzip oder besser noch das Fairness-Prinzip. Dieser Gleichheitsgedanke sollte nicht irrtümlich für eine Übereinstimmung oder Stereotypie gehalten oder mit diesen Begriffen verwechselt werden! Der Islam lehrt, dass aus der Sicht Gottes alle Menschen gleich, jedoch nicht zwangsläufig identisch sind. Sie haben unterschiedliche Fähigkeiten, Potentiale, Ambitionen, Besitztum und so weiter. Dennoch kann keiner dieser Unterschiede an sich einen Überlegenheitsstatus eines Menschen oder einer Rasse gegenüber anderen begründen. Die Herkunft des Menschen, seine Hautfarbe, sein Vermögen und Ansehen haben - was Gott betrifft - keinen Einfluss auf den Charakter und die Persönlichkeit des Einzelnen. Das einzige von Gott anerkannte Unterscheidungsmerkmal ist Gottesfurcht und das einzige von Gott angesetzte Kriterium lautet Güte und spirituelle Vortrefflichkeit. Gott sagt im Qurân:
O ihr Menschen, Wir haben euch ja von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Gewiss, der Geehrteste von euch bei Allâh ist der Gottesfürchtigste von euch. Gewiss, Allah ist Allwissend und Allkundig. (Sûra 49:13).
Die unterschiedlichen Rassen, Farben oder gesellschaftlichen Stellungen sind nur nebensächlich. Sie beeinträchtigen den wahren Status des Menschen aus Gottes Sicht nicht. Nochmals: Der Gleichheitsgedanke ist nicht lediglich eine Frage der Grundrechte, eine Absprache unter Ehrenleuten oder eine herablassende Wohltätigkeit. Er ist ein Glaubensartikel, den der Muslim ernst nimmt und an dem er aufrichtig festhalten muss. Die Grundlagen dieses islâmischen Gleichheitsgedankens sind in der Struktur des Islâm tief verwurzelt. Sie rühren von folgenden Grundprinzipien her: (1) Alle Menschen sind von ein und demselben ewigen Gott erschaffen, dem höchsten Herrn aller Dinge. (2) Die gesamte Menschheit gehört dem Menschengeschlecht an und teilt sich in gleichem Maße die Abstammung von Adam und Eva. (3) Gott ist gerecht und gütig gegenüber all Seinen Geschöpfen. (4) Alle Menschen werden insofern gleich geboren, als dass niemand irgendeinen Besitz mit sich bringt, und sie sterben insofern gleich, als dass sie nichts von ihren weltlichen Besitztümern mitnehmen. (5) Gott richtet über jeden Menschen auf Grundlage dessen eigener Verdienste und entsprechend dessen eigener Taten. (6) Gott verleiht dem Menschen als solchen einen Ehren- und Würdetitel.
Dies sind einige Prinzipien, die hinter dem Wert der Gleichheit im Islâm stecken. Wird dieses Konzept vollständig verwirklicht, dann lässt es keinen Platz für Vorurteile oder Verfolgungen. Wird diese Göttliche Verordnung vollständig umgesetzt, dann gibt es keinen Platz für Unterdrückung oder Niederschlagung. Begriffe wie auserwählte und heidnische Völker, Worte wie privilegierte und abgeurteilte Rassen, Ausdrücke wie soziale Kasten und Bürger zweiter Klasse werden alle bedeutungslos und hinfällig.
Das Brüderlichkeitskonzept
Ein weiteres wesentliches Element des islâmischen Wertesystems ist der Wert der Brüderlichkeit unter den Menschen. Dieser Wert ist ebenfalls auf denselben Prinzipien errichtet, die bereits in Verbindung mit Freiheit und Gleichheit erörtert wurden. Neben den vorstehenden Prinzipien beruht die Brüderlichkeit unter den Menschen auf einem unerschütterlichen Glauben an das Eins-Sein und die Universalität des Angebeteten, an die Gleichheit der anbetenden Menschheit und an die Einheitlichkeit der Religion – dem Anbetungsmittel. Für den Muslim ist Gott einzig, ewig und universal. Er ist der Schöpfer aller Menschen, der Versorger aller Menschen, der Richter über alle Menschen und der Herr aller Menschen. Für Ihn sind gesellschaftliche Stellung, Nationalität und ethnische Herkunft unbedeutend. Vor Ihm sind alle Menschen gleich und einer des anderen Bruder.
Der Muslim glaubt an die Einheit der Menschen hinsichtlich des Schöpfers, der ursprünglichen Abstammung und des endgültigen Bestimmungsorts. Der Schöpfer ist einzig und allein Gott. Die ursprüngliche gemeinsame Abstammung ist von Adam und Eva. Dieser ersten Abstammung gehört jeder Mensch an und an ihr hat er teil. Was den endgültigen Bestimmungsort betrifft, besteht im Kopf des Muslims kein Zweifel, dass er bei Gott dem Schöpfer sein wird, zu Dem alle Menschen zurückkehren.
Der Muslim glaubt an die Einheitlichkeit der Religion Gottes. Dies bedeutet, dass Gott Seine Religion nicht auf ein bestimmtes Volk, eine bestimmte Rasse oder Generation beschränkt oder eine solche bevorzugt. Es bedeutet ferner, dass es keine Widersprüche oder grundlegenden Unterschiede in Gottes Religion geben kann. Wird all dies korrekt interpretiert, dann gibt es keinen Platz für angebliche Überlegenheit oder anmaßende Exklusivität. Wird dies darüber hinaus dem menschlichen Verstand vermittelt, dann ist der Mensch mit einem klaren Konzept und einer soliden Grundlage menschlicher Brüderlichkeit ausgestattet. Weil der Muslim an die Einzigkeit Gottes, die Gleichheit der Menschen und die Einheitlichkeit der Religion glaubt, glaubt er an alle Gesandten und Offenbarungen Gottes, ohne einen Unterschied zwischen ihnen zu machen.
Das Friedenskonzept
Um zu verstehen, wie der Islam die Friedensfrage behandelt, muss man lediglich einige grundlegende islamische Fakten betrachten. Frieden und Islâm werden vom selben Wortstamm abgeleitet und können als synonym betrachtet werden. Einer der Namen Gottes lautet Frieden. Die abschließenden Worte der täglichen Gebete eines jeden Muslims sind Worte des Friedens. Der Gruß der Muslime bei ihrer Rückkehr zu Gott ist „Friede!“. Die täglichen Grußworte unter Muslimen sind Friedensbekundungen. Das Adjektiv „Muslim“ bedeutet in gewissem Sinne friedvoll. Der Himmel ist im Islam die Stätte des Friedens.
Derart grundlegend und vorherrschend ist das Thema Frieden im Islâm. Jemand, der sich Gott durch den Islâm nähert, lebt zwangsläufig mit Gott, mit sich selbst und mit seinen Mitmenschen in Frieden. Indem gute Menschen all diese Werte in sich vereinen, dem Menschen seinen korrekten Platz im Kosmos zuweisen und das Leben aus islamischer Sicht betrachten, gewinnen sie ihre Menschenwürde zurück, um Gleichheit zu erlangen, weltumfassende Brüderlichkeit zu genießen und dauerhaft Frieden zu schaffen.
Das Gemeinschaftskonzept
Dem Wort Gemeinschaft werden bestimmte Nebenbedeutungen zugeschrieben, die teils romantisch und nostalgisch, teils abfällig und reaktionär sind. Da wir jedoch die Grundlagen behandeln möchten, werden wir unsere Erörterung auf die grundlegendsten Bedeutungen des Wortes Gemeinschaft beschränken.
In einem grundlegenden Sinne bedeutet der Begriff Gemeinschaft „Alle Beziehungsarten, die durch ein hohes Maß an persönlicher Intimität, emotionaler Tiefe, moralischen Verpflichtungen, sozialem Zusammenhalt und zeitlicher Kontinuität gekennzeichnet sind…. Sie sind in… Gegenden, Religionen, Nationen, Rassen, Berufen oder (gemeinschaftlichen Angelegenheiten) zu finden. Ihr Archetyp … ist die Familie.“ (Robert Nisbet, The Sociological Tradition - New York: Basic Books, 1996, S. 47-48).
In einem weiteren grundlegenden Sinne ist eine Gemeinschaft eine umfassende Gruppe mit zwei Hauptmerkmalen: (1) Sie ist eine Gruppe, in der das Individuum den meisten ihm wichtigen Tätigkeiten nachgehen und die meisten ihm wichtigen Erfahrungen machen kann. (2) Die Gruppe ist durch ein gemeinsames Zugehörigkeits- und Identitätsgefühl verbunden. (L. Broom & P. Selznick, Sociology: A Text with Adapted Readings New York: Harper & Rowe, 1968, S.31).
Der historische Haupttrend war eine Entwicklung von intimen, tiefen und moralischen Gemeinschaftsbeziehungen hin zu unpersönlichen, förmlichen und zweckdienlichen Beziehungen der Massengesellschaft. Diese Entwicklung wurde durch verschiedene Phasen gekennzeichnet und von weitreichenden Folgen geprägt.
Aus diesem historischen Trend kann man folgende Rückschlüsse ziehen: Erstens: Diese historische Entwicklung war weder völlig negativ noch vollkommen positiv und konstruktiv. Sowohl negative als auch positive Folgen beeinträchtigten verschiedene Menschen in unterschiedlichem Maße. Zweitens: Die heutige Gesellschaft ist bei weitem nicht vollkommen und es gibt noch viel zu tun. Drittens: Das Menschsein ist weder eine aussichtslose Angelegenheit noch ein hoffnungsloser Fall. Freilich gibt es Krisen und Mühsal, dennoch ist die Lage nicht völlig außer Kontrolle. Letztendlich wurden die Menschen abhängiger voneinander und die menschlichen Gesellschaften stärker miteinander verflochten. Was immer in einem Gesellschaftssegment geschieht, beeinflusst zwangsläufig die anderen. Dies sollte bei der Erörterung des islamischen Gemeinschaftskonzepts berücksichtigt werden!
Es darf grundsätzlich behauptet werden, dass das islâmische Gemeinschaftskonzept einige einzigartige Charakteristika aufweist. Diese einzigartigen Merkmale stehen in Zusammenhang mit dem Fundament oder der Grundlage der Gemeinschaft, deren historischen Auftrag und Zweck, deren Status unter anderen Gemeinschaften, deren Identität und deren Fortbestehen.
Die islâmische Gemeinschaft basiert nicht auf Rasse, Nationalität, Ort, Beruf, Verwandtschaft oder speziellen Interessen. Sie leitet ihren Namen nicht von einem Führer, Gründer oder Ereignis ab. Sie überschreitet nationale und politische Grenzen. Die Grundlage der islâmischen Gemeinschaft ist das Prinzip der Ergebung in den Willen Allâhs, des Gehorsams gegenüber Seinem Gesetz und des Einsatzes für Seine Sache. Kurz gesagt existiert eine islâmische Gemeinschaft nur dann, wenn sie durch den Islam genährt und gefördert wird.
Die islâmische Gemeinschaft hat einen historischen Auftrag, der weit über bloßes Überleben, reine Macht, Fortpflanzung oder physiologisches Fortbestehen hinausgeht. Dieser Auftrag wird im ehrwürdigen Qurân wie folgt beschrieben:
Und es soll aus euch eine Gemeinschaft werden, die zum Guten aufruft, das Rechte gebietet und das Verwerfliche verbietet. Jene sind es, denen es wohl ergeht. (Sûra 3:104). Ihr seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte und verbietet das Verwerfliche und glaubt an Allâh... (Sûra 3:110).
Die historische Rolle der islâmischen Gemeinschaft besteht darin, die wahre Verkörperung der Tugend, des Förderlichen und Edlen zu sein. Eine wirklich islâmische Gemeinschaft ist der wachsame Hüter der Tugend und der erbitterte Feind der Untugend. Was von der Gemeinschaft insgesamt verlangt wird, wird gleichermaßen von jedem einzelnen Mitglied verlangt. Dies liegt daran, dass die gesamte Gemeinschaft ein homogenes Gebilde und jedes Mitglied vor Allâh verantwortlich ist. Die Rolle des einzelnen Muslims wird mit folgender Aussage des Propheten bestens beschrieben:
Wer von euch etwas Schlechtes sieht, der soll es eigenhändig ändern. Wenn er das nicht kann, dann mit seiner Zunge. Und wenn er das nicht kann, dann mit seinem Herzen. Und dies ist der schwächste Glauben.
Wie man sehen kann, ist diese Beschreibung sehr aussagekräftig und umfassend. In der heutigen Zeit revolutionärer Medien kann niemand, der bei vollem Verstand ist, die Macht des abgestimmten Handelns, die Macht der kommunizierbaren Worte oder die Macht der Gefühle unterschätzen.
Die historische Rolle der islâmischen Gemeinschaft wird überdies in folgendem Qurân-Vers erklärt:
Und so haben Wir euch zu einer Gemeinschaft der Mitte gemacht, damit ihr Zeugen über die (anderen) Menschen seiet und damit der Gesandte über euch Zeuge sei… (Sûra 2:143).
Eine derartige Zeugenfunktion ist sowohl höchst bedeutsam als auch äußerst anspruchsvoll. Sie bedeutet, dass die islâmische Gemeinschaft beispielhaft sein muss. Sie muss die höchsten Ausführungsstandards setzen und der Bezugspunkt für Andere sein. Sie muss Auswüchse und Extravaganz, statische Unnachgiebigkeit und unmittelbare Verflüchtigung vermeiden. Die vermutlich schwierigste Prüfung für den menschlichen Charakter und die gesellschaftliche Realisierbarkeit besteht darin, einen Mittelweg beim Handeln einzuschlagen, standhaft und konsequent zu sein, zu wissen, was man akzeptieren und was man ablehnen sollte, Prinzipien zu haben und gleichzeitig anpassungsfähig zu bleiben. Darin bestehen jedoch die Funktion der islamischen Gemeinschaft und der historische Auftrag der Muslime. Und genau dieses Kriterium qualifiziert die Muslime dazu, die beste jemals hervorgebrachte menschliche Gemeinschaft zu sein.
Die Gemeinschaftsidentität dreht sich um folgende Prinzipien: Beständige Ausgewogenheit, beispielhaftes Verhalten, einheitliches Ziel, gegenseitiges Mitgefühl, Solidarität und Gerechtigkeit. Im Qurân und in der Sunna sind diesbezüglich zahlreiche Aussagen zu finden (beispielsweise 4:135, 21:92, 23:52).
Im Hinblick auf das Fortbestehen der islamischen Gemeinschaft sind einige Punkte erwähnenswert: Die Muslime haben die Pflicht, alles im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu tun, um dieses Fortbestehen zu gewährleisten. Die Ehe- und Erbgesetze, die Verpflichtung zur Zakâ und zum Haddsch, die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Angehörigen, das individuelle Pflichtbewusstsein und die soziale Zugehörigkeit – all diese Punkte sind auf das gesunde Fortbestehen der islâmischen Gemeinschaft ausgerichtet. Zum anderen verspricht Allâh, dieses Fortbestehen auf verschiedene Weise zu schützen. Erstens verspricht Er, den Qurân zu bewahren und dessen Reinheit zu schützen. (Sûra 15:9).
Dies bedeutet, dass es immer eine den Qurân befolgende Gemeinschaft geben wird, und dass der Qurân nicht ohne Anhänger sein wird, auch wenn es Anhänger anderer Offenbarungsbücher geben mag. Zweitens besteht der Islam an sich weiterhin fort. Immer wenn ein Volk vom Wege Allâhs abkam, formulierte Er Sein Wort neu, bestätigte Seine Wahrheit nochmals und beauftragte neue Propheten oder Reformer damit, weiterzumachen. Drittens sprach Allâh eine strenge Warnung aus, die besagt, dass Muslime die Verlierer sein werden, wenn sie sich vom rechten Pfad abkehren. Allâh wird sie durch ein anderes Volk ersetzen, das nicht wie die erfolglosen Muslime sein wird (Sûra 47:38).
Die Gläubigen werden nochmals gewarnt, dass Allâh, wenn sie sich von ihrer Religion abkehren, bald Leute hervorbringen wird, die Er liebt, und die Ihn lieben – bescheiden gegenüber den Gläubigen, stark gegenüber den Glaubensverweigerern, und die sich auf Allâhs Weg abmühen und nicht den Tadel des Tadlers fürchten (Sûra 5:54).