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Bescheidenheit: Eine Eigenschaft, die nur von Wenigen beherrscht, jedoch von Vielen beansprucht wird.





Im Lebensabschnitt, in dem ein Mensch damit beginnt, sich sein erstes eigenes Bild über die Welt zu entwickeln und wie er in deren gigantische, komplexe Systeme passt, erfährt er eine Art Identitätskrise. Ich meine damit nicht die typische Identitätskrise, bei der der Mensch nicht weiß, wer er wirklich ist und was sein wahres Wesen ausmacht. Ich deute auf eine andere Art Unsicherheit hin: Eine Krise im Umgang mit den Widersprüchen und Unstimmigkeiten des eigenen Selbstwertes. Als Individuen vergleichen wir, wie wir unseren Selbstwert in der Vergangenheit betrachteten und wie die Gesellschaft unseren Selbstwert heute bewertet. Zudem prüfen wir, wie wichtig wir uns selbst, gemäß göttlicher Führung, idealerweise sein sollten. Dieses verwirrende Rätsel bringt uns alle durcheinander und deshalb neigen wir dazu, es zu versäumen, nach Antworten zu suchen, und entschließen uns stattdessen dazu, andere bestimmen zu lassen, wie wir unseren Selbstwert wahrnehmen. Sehr oft schwanken wir, in ständiger Reaktion auf inneren und äußeren Aufruhr, von einem Extrem zum anderen. Wenige erkennen, dass im Kern dieser Identitätskrise Bescheidenheit steckt, ein Konzept, das Allâh anweist und für das Er Führung bereitstellt – eine Führung, die dabei helfen kann, unser turbulentes Leben zu beruhigen, und ein Verständnis dafür schaffen kann, wer und wie wichtig wir eigentlich sind.





Wenn wir die Bedeutung von Bescheidenheit in dessen fachspezifischem engem Sinn akzeptieren, was bedeutet, sich zu benehmen und zu glauben, dass wir anderen nicht überlegen sind, werden sich für uns umgehend einige Komplikationen ergeben. Wir können hinterfragen, ob dieses Bescheidenheitsgefühl eine Spiegelung aufrichtiger Gefühle und Werte ist: Man kann genuine Beweggründe wie beispielsweise Bewunderung oder Schamgefühl haben, doch es könnten auch verborgene Beweggründe wie beispielsweise Selbsterfüllung, politisches oder gesellschaftliches Manövrieren oder auch Heuchelei vorhanden sein. Man kann auch vor einigen bescheiden, jedoch vor anderen arrogant sein. Kann man diese situationsabhängige Demut als Bescheidenheit betrachten? Die wichtigste Frage ist, ob Bescheidenheit relativ zu Umständen und gesellschaftlichen Normen oder ein festgesetztes Persönlichkeitsmaß ist. Wenn ein Multimilliardär stolz auf seinen Reichtum ist, sich jedoch vor mächtigeren Menschen wie beispielsweise Bill Gates bescheiden zurückhält, wird ihn die Gesellschaft dann als eine bescheidene Person akzeptieren? Fragen wie diese verkomplizieren den Kerngehalt der Bescheidenheit und deshalb legen viele die Wichtigkeit, bescheiden zu sein, gänzlich ab. Stattdessen wird zu passiven Standpunkten ermuntert, wie beispielsweise „Lass deine Arroganz nicht heraussprudeln, außer jemand greift dich persönlich an!“ Mit diesem Kompromiss sehen wir ein anderes Problem: Kann Bescheidenheit wirklich bedingt sein (sprich: „Wenn du mir gegenüber bescheiden bist, dann werde ich dir gegenüber bescheiden sein.“)? Dies bringt uns zur nächsten Frage: Wie weit muss man in einer säkularen Gesellschaft, die jeden Menschen für einen eigenen Gott hält, gehen, um wirklich bescheiden zu sein, ohne dabei die eigene Würde zu verlieren? Sind Würde und Bescheidenheit völlig entgegengesetzt oder können sie zeitgleich auf den höchsten Ebenen bestehen?





Andererseits revolutioniert die Rechtleitung durch den Islâm das Konzept der Bescheidenheit komplett. Erstens: Allâh ordnet dem Menschen an bescheiden zu sein und beweist damit, dass dies wichtig ist, und nicht lediglich eine optionale Eigenschaft. Zweitens: Allâh verbindet die Menschenwürde untrennbar mit der Schöpfung Allâhs, da der Qurân besagt, dass der Mensch „... in schönster Gestaltung erschaffen  ...“ (95:4) wurde. Wenn die Menschen ein Leben im Einklang mit Allâhs Richtlinien leben, dann erhöht Allâh deren Status: „…Gewiss, der Geehrteste von euch bei Allâh ist der Gottesfürchtigste von euch …“ (Sûra 49:13). Und wir werden daran erinnert, dass wir, wenn wir von der Rechtleitung abkommen, die „… Niedrigsten der Niedrigen werden …“ (Sûra 95:5). Dies verändert die akzeptierten Normen, gemäß derer wir beurteilt werden und gemäß derer wir uns gegenseitig beurteilen, grundlegend.





Muslime glauben, dass die endgültige Beurteilung Allâh selbst vornimmt. Dies verleiht Muslimen grenzenlose Erleichterung und Freiheit – da sie, so lange sie Allâhs Anordnungen mit Weisheit und Aufrichtigkeit nachkommen, wissen, dass sie die Meinungen anderer nicht fürchten müssen. Wenn demgemäß die Gesellschaft einen Gläubigen als den „Niedrigsten der Niedrigen“ betrachtet, bleibt er gelassen, da er weiß, dass Allâhs Urteil das höchste ist. Dies bewahrt uns davor, arrogant zu werden, da wir absolut keinen Beweis für unseren Erfolg haben. Selbst wenn ein Mensch äußerlich auf dem Weg des Erfolgs zu sein scheint, kann dessen innerer Zustand anders sein. Und obwohl jemand möglicherweise seinen inneren Bescheidenheitszustand kennt, kann dies nicht garantieren, dass er in Zukunft standhaft bleibt. Selbst wenn ein gläubiger Mensch ständig bescheiden bleibt, so weiß er, dass das endgültige Urteil immer noch vollständig Allâhs Aufgabe selbst ist, der frei ist zu tun, was Er will. Deshalb nimmt uns diese Unsicherheit, wie über uns geurteilt werden wird, die Arroganz. Sie hält uns in einem ständigen Zustand des Bittens um die Barmherzigkeit und Vergebung Allâhs.





Allâhs höchste Autorität anzuerkennen verhilft Muslimen dazu, das Beurteilen anderer zu unterlassen, da sie erkennen, dass ihr eigenes Urteil völlig unnütz ist. Selbst angesichts offensichtlicher äußerlicher Zeichen von Heuchelei oder Arroganz können wir niemals Überlegenheit gegenüber einem anderen unterstellen. Alles, was wir tun können, ist sowohl zu innerer als auch zu äußerer Besserung zu raten, da niemand weiß, was unsere Zukunft bringt. Dennoch sind Muslime dazu angewiesen, eindeutiges Übel offen zu verachten und gegen Tyrannei Widerstand zu leisten. Wenn ein Mensch Böses duldet und sich zurückhält, dann wird seine Bescheidenheit (oder Angst) nur die Arroganz nähren und dem Bösen erlauben stärker zu werden.





Genauso wie es tugendhaft ist, bescheiden zu sein, ist es übel, arrogant zu sein, da es das Fundament der islâmischen Weltanschauung in Frage stellt, das auf Gerechtigkeit und Gleichheit beruht. Daher der Ausspruch des Propheten (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken): „Niemand, der ein Staubkorn an Hochmut in seinem Herzen hat, wird den Paradiesgarten betreten!“ (Muslim).





Jemand, der sich seiner verwundbaren Lage unter allgemein gültigen Gegebenheiten bewusst ist, wird es als schwierig empfinden, arrogant zu werden. Allerdings garantiert dies nicht völlige Immunität. Menschen sind, als Teil ihrer natürlichen Veranlagung, empfänglich für gesellschaftlichen Druck. Wenn uns die Gesellschaft lobt, ist unsere Bescheidenheit bedroht, da wir uns eine neuentdeckte Großartigkeit zuschreiben – die uns dazu verleiten könnte, an unsere Überlegenheit zu glauben und an die größere Wahrscheinlichkeit auf eine erfolgreiche Zukunft, da wir „besser“ sind. Sobald ein Mensch an eine größere Wahrscheinlichkeit des Zukunftserfolgs glaubt, beginnt er damit, sich weniger Sorgen darum zu machen, was verheerende Folgen haben kann. Je eifriger wir unsere Ziele verfolgen, desto größer ist die Chance sie zu erreichen. Arroganz betäubt unser Interesse und desensibilisiert uns für alle Mängel, die wir möglicherweise haben, und ebnet so den Weg zur Katastrophe.





Um uns selbst vor derartigem Hochmut zu schützen, sind wir angewiesen, uns von Prahlerei und jeder unnötigen Demonstration unserer Errungenschaften fernzuhalten. Wir müssen äußerst vorsichtig dabei sein, unsere guten Eigenschaften zu offenbaren, obwohl wir unsere Errungenschaften erwähnen sollten, wenn es das Wohl unter anderen fördert. Sich innerlich über seine Errungenschaften zu freuen, ist andererseits innerhalb bestimmter Grenzen auch erlaubt: solange dies nicht zu unbeherrschter Selbstbewunderung, Arroganz oder Vergessen dessen, der diesen Erfolg erlaubt hat, führt. Eigentlich sollten wir Allâhs Gnadenerweise erkennen, da uns dies ermöglicht, Allâh gegenüber Dankbarkeit zu zeigen und zu beten, dass wir sie für sogar noch größeres Wohl erfolgreich nutzen!





Ein weiteres üblicherweise missverstandenes Konzept ist die Beziehung zwischen Würde und Bescheidenheit, da einige möglicherweise Würde mit Arroganz und Bescheidenheit mit einem Mangel an Würde verwechseln. Nur indem wir die Vorbilder unserer großartigen Vorfahren betrachten, können wir die feinen Unterschiede verstehen. So erkennen wir, wie Umar  möge Allah mit ihm zufrieden sein eine Person ermahnt, die übertrieben demütig läuft. Jedoch hatte er kein Problem damit, zusammengeflickte Kleidung zu tragen und seinen Bediensteten das Kamel reiten zu lassen, als sie Jerusalem betraten, obwohl die christlichen Würdenträger ihn erwarteten. Im Wesentlichen gelang es unseren Vorfahren, sowohl Würde als auch Bescheidenheit auf höchster Ebene zu wahren. Die beiden Eigenschaften waren sicherlich nicht sich gegenseitig ausschließend, da Würde darin besteht, der Seele, die von Allâh erschaffen wurde, Ehre zu verleihen, wohingegen Bescheidenheit darin besteht, seine eigenen Taten und Errungenschaften herunterzuspielen. Die Bewährungsprobe für diesen einzigartigen Bewusstseinszustand ist die Tatsache, dass sie niemals darüber erhaben waren, ihre Fehler einzugestehen, und niemals Andere herabsetzten.





Es gibt auch nicht den Gedanken der absoluten Selbstverwirklichung im Islâm, da alle Macht ausschließlich von Allâh stammt. Wenn ein Mensch glaubt, dass er allein Erfolg schafft, dann ist er verblendet und seine Taten sind wertlos. Doch wenn er an Allâhs Macht glaubt, dann ist er ermächtigt und seine Taten sind bedeutsam. Bescheidenheit wird daher zu einer Frage des Glaubens an Allâh; je mehr Glauben man an Allâhs Schutz besitzt, desto mächtiger fühlt man sich – und desto demütiger ist man vor dieser ehrfurchtgebietenden Macht. Der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) selbst war das beste Geschöpf in der Geschichte der Schöpfung, jedoch auch das bescheidenste von allen. Dieses „höhere“ Denken kann erklären, wie die Gefährten des Propheten (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) absolut keine Furcht verspürten, das mächtige Römische und das mächtige Persische Reich herauszufordern, obwohl sie sich bescheiden zurückhielten, indem sie Widerwillen ausdrückten, wenn sie für Führungsrollen innerhalb des islâmischen Staates bestimmt wurden. Demnach sind feiner Seele, die vollständig in Liebe für Allâh eingetaucht ist, Gefühle der Verzweiflung naturgemäß fremd.





Ein Ausspruch des asketischen Lehrers Ibn Ata'ullâh erfasst dieses Gefühl wortgewandt: „Eines der Zeichen dafür, dass man sich auf die eigenen Taten verlässt, ist der Verlust von Hoffnung, wenn man stürzt!“ Sobald sich ein den Glauben Verinnerlichender vollständig dem Willen Allâhs unterwirft, wird er niemals einen Bewusstseinsverlust oder Erniedrigung verspüren, da seine Quelle des Vertrauens niemals verschwindet:





„…Es gibt die Hoffnung auf das Erbarmen Allâhs nur das ungläubige Volk auf.“ (Sûra 12:87).





Und sobald man erkennt, dass man all seine Kraft von Allâh bezieht, Der sie jederzeit wieder zurücknehmen kann, wird der eigene Hochmut automatisch verschwinden: „Sag: O Allâh, Herr der Herrschaft, Du gibst die Herrschaft, wem Du willst, und Du entziehst die Herrschaft, wem Du willst. Du machst mächtig, wen Du willst, und Du erniedrigst, wen Du willst. In Deiner Hand ist (all) das Gute. Gewiss, Du hast zu allem die Macht.“ (Sûra 3:26).





 





Bescheidenheit ist eine Eigenschaft, die äußerst schwierig zu erlangen und zu beherrschen ist. Und genauso wie der Kampf, Aufrichtigkeit zu erlangen, bleibt es unser ganzes Leben lang ein dynamischer Kampf. Ein Großteil davon stammt von deren paradoxer Eigenart: Wie einerseits Bescheidenheit von einem abverlangt, von Selbstbewunderung abzusehen und sich selbst herabzusetzen, so offenbart sie sich allerdings nur in den bewundernswertesten Menschen. Gleichermaßen zerstört Bescheidenheit alle Überlegenheitskomplexe, doch nur wahrhaftig überlegene Menschen bringen es fertig, dies zu vollbringen. Letztendlich sind einzig den Glauben verinnerlichende Menschen, die von Allâh überzeugt sind, machtvoll befähigt, bescheiden zu bleiben.



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