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Die ethische Wertordnung im Islâm





 





Der Sinn für ethische Werte ist dem Menschen angeboren. Er hat dem Durchschnittsmenschen von jeher als Maßstab für sittliches Verhalten gedient, nach dem gewisse Eigenschaften als gut anerkannt, andere mißbilligt wurden. Während diese instinktive Fähigkeit von Mensch zu Mensch verschieden sein kann, vertritt das menschliche Gewissen einen mehr oder weniger einheitlichen Standpunkt bezüglich bestimmter moralischer Qualitäten, die als gut und bestimmter anderer, die als schlecht zu erachten sind. Was die moralischen Tugenden betrifft, so haben Gerechtigkeit, Mut, Tapferkeit und Wahrhaftigkeit stets Lob hervorgerufen und die Geschichte hat keine nennenswerte Zeitspanne zu verzeichnen, in der Falschheit, Ungerechtigkeit, Unehrlichkeit und Vertrauensbruch hochgehalten worden wären. Stets wurden Mitgefühl, Mitleid, Treue und Großmut geschätzt, während Selbstsucht, Grausamkeit, Geiz und Bigotterie nie den Beifall der menschlichen Gesellschaft fanden.





 





Die Menschen zollten Standhaftigkeit, Entschlossenheit und Mut schon immer Anerkennung, Ungeduld, Wankelmut, Feigheit und Dummheit dagegen wurden noch nie gebilligt. Würde, Beherrschung, Höflichkeit und Freundlichkeit wurden zu allen Zeiten zu den Tugenden gezählt, während Anmaßung, schlechtes Benehmen und Grobheit nie unter die guten moralischen Eigenschaften eingereiht worden sind. Stets waren es verantwortungsbewusste, pflichtgetreue Menschen, denen höchste Achtung zuteil wurde. Nie betrachtete man Unfähige, Träge und solche, die es an Pflichtgefühl mangeln ließen, mit Wohlwollen.





 





 Gleicherweise war die Auffassung bezüglich des Maßstabs für gut und schlecht im kollektiven Verhalten der Gesellsehaft als Ganzes stets einmütig. Nur die Gesellschaft, die die Tugenden der Ordnungsliebe, der Disziplin, der gegenseitigen Zuneigung und des Mitgefühls besitzt und eine auf Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit der Menschen basierende Gesellschaftsordnung errichtete, wurde als der Ehre und Achtung würdig angesehen. Im Gegensatz dazu wurden Desorganisation, Unordnung, Anarchie, Uneinigkeit, Ungerechtigkeit und soziale Ungleichheit immer als Zeichen des Verfalls und der Desintegration in einer Gesellschaft betrachtet. Raub, Mord, Diebstahl, Ehebruch, Betrug und Korruption wurden stets verurteilt.





 





Verleumdung, Klatschsucht und Erpressung wurden nie als nützliche gesellschaftliche Betätigung angesehen. Umgekehrt sind der Dienst an und die Pflege von Betagten, Treue zu Freunden, Beistand für die Schwachen, Mittellosen und Waisen und Fürsorge für die Kranken Tugenden, die von Anbeginn der Zivilisation an stets hoch geschätzt wurden. Anständige, höfliche, sanftmütige und aufrichtige Menschen waren immer und überall willkommen, ebenso wie jene, die rechtschaffen, ehrlich, pflichtbewusst und zuverlässig waren, deren Taten in Einklang mit ihren Worten standen.





 





Diejenigen, die sich mit ihrem eigenen, rechtmäßigen Besitz zufriedengaben und in der Erfüllung ihrer Verpflichtungen anderen gegenüber prompt waren, die in Frieden lebten und andere in Frieden leben ließen, und von denen man nur Gutes erwarten konnte, bildeten von jeher den Kern jeder gesunden menschlichen Gesellschaft.





 





Dies macht deutlich, dass menschliche Moralmaßstäbe tatsächlich allgemeingültig sind und der Menschheit zu allen Zeiten wohl vertraut waren. Gut und böse sind keine Mythen, die aufgestöbert werden müssten, sie sind bekannte Wirklichkeiten und werden von allen gleichermaßen verstanden. Das Gefühl für gut und böse ist schon im Wesen des Menschen verankert. Deshalb wird in der qurânischen Terminologie die Tugend als “Ma‘rûf” (etwas Wohlbekanntes) und das Übel als Munkar (etwas Unbekanntes) bezeichnet, das heißt, dass die Tugend als etwas für jeden Wünschenswertes gilt, und dass das Übel nicht dafür bekannt ist, sich auf irgendeine Art als wünschenswert erwiesen zu haben.





 





Diese Tatsache wird im Qurân erwähnt, wenn es heißt:





 





“Er gewährte der Seele den Sinn für das, was für sie unrecht und was für sie recht ist.” (Sûra 91:8)





 





Warum Unterschiede?





 





Die Frage, die jetzt auftaucht, lautet: wenn die grundlegenden Werte des Guten und Bösen so bekannt waren und es darüber praktisch ein allgemeingültiges Übereinkommen gab, warum existieren dann in dieser Welt unterschiedliche ethische Verhaltensweisen?





 





Warum widersprechen gewisse ethische Maßstäbe einander? Wo ist der Ursprung für diese Unterschiede zu suchen? Welche einzigartige Stellung nimmt der Islâm im Zusammenhang mit den vorherrschenden ethischen Wertvorstellungen ein? Aus welchen Gründen können wir behaupten, der Islâm besitze eine vollkommene ethische Wertordnung? Und was genau ist der bedeutende Beitrag des Islâm auf dem Gebiet der Ethik?





 





Diese Fragen sind wichtig und man muß sie ehrlich anpacken. Aber innerhalb des Rahmens dieser kurzen Abhandlung lassen sie sich nicht erschöpfend beantworten.





 





Hier sollen nur kurz gefasst einige der wichtigsten Punkte herausgegriffen werden, die uns schon gleich zu Beginn ins Auge springen, wenn wir die zeitgenössischen ethischen Wertordnungen und nicht miteinander übereinstimmenden moralischen Verhaltensweisen einer Prüfung unterziehen.





 





a) Den gegenwärtigen ethischen Wertordnungen gelingt es nicht, verschiedene moralische Tugenden und Normen zu integrieren, indem sie ihnen gewisse Grenzen setzen, ihnen einen bestimmten Nutzen zuschreiben und ihnen ihren eigenen Platz zuordnen. Aus diesem Grund sind sie nicht in der Lage, ein ausgewogenes und zusammenhängendes Konzept für gesellschaftliches Verhalten zu erstellen.





 





b) Die wahre Ursache ihrer Unterschiede scheint darin zu liegen, dass die ethischen Wertvorstellungen verschiedene Maßstäbe für gute und schlechte Taten setzen und voneinander abweichende Mittel zur Unterscheidung von Gut und Böse heranziehen. Es gibt auch Unterschiede in Bezug auf die Sanktion hinter dem Moralgesetz und bezüglich der Motive, die einen Menschen bewegen, es zu befolgen.





 





c) Durch eingehendes Nachdenken erkennen wir, dass die Gründe für diese Unterschiede aus den unvereinbaren Ansichten und Vorstellungen der einzelnen Völker über das Universum, die Stellung des Menschen darin und den Zweck des menschlichen Daseins auf Erden hervorgehen. Mannigfaltige Theorien über Ethik, Philosophie und Religion sind nichts anderes als ein Spiegelbild der ungeheuren Abweichungen in den Anschauungen der Menschheit über diese äußerst wichtigen Fragen, wie beispielsweise diese:





 





Gibt es einen Gott und einen Beherrscher des Kosmos, und wenn ja, ist es Einer oder gibt es viele Götter? Welches sind die göttlichen Eigenschaften? Was sind die Merkmale der Beziehung zwischen Gott und den Menschen? Hat Er irgendwelche Vorkehrungen getroffen, um die Menschheit durch den Irrgarten des Lebens zu führen oder nicht? Ist der Mensch Ihm gegenüber verantwortlich oder nicht? Wenn ja, wofür ist er dann vor Ihm verantwortlich? Was ist der letztliche Sinn der Erschaffung des Menschen, den er sein ganzes Leben lang nicht aus den Augen verlieren sollte?





 





Die Antworten zu diesen Fragen werden die Lebensweise, die Moralphilosophie und die ethische Verhaltensweise des einzelnen und der Gesellschaft bestimmen.





 





In dieser kurzen Abhandlung ist es schwierig für mich, die in der Welt vorherrschenden ethisch fundierten Weltanschauungen aufzuzählen und auf die Lösungen hinzuweisen, die jede von ihnen auf diese Fragen vorschlägt, sowie den Einfluss dieser Antworten auf die moralische Entwicklung der an diese Vorstellungen glaubenden Gesellschaft aufzuzeigen. Ich kann mich hier lediglich auf die islâmische Auffassung beschränken und diese werde ich eingehend zu erläutern suchen.





Die islâmische Auffassung über Leben und sittliches Verhalten





 





Der Standpunkt, den der Islam einnimmt, ist jedenfalls, dass dieses Universum die Schöpfung des Einen Gottes ist. Er erschuf es und Er allein ist sein unbestrittener Herr, Beherrscher und Versorger.





 





Das gesamte Universum steht unter Seinem göttlichen Gebot. Er ist weise, mächtig und allwissend. Er ist Subbûh und Quddûs, das heißt, Er ist frei von jeglichem Makel, allen Fehlern, Schwächen und Unzulänglichkeiten. Sein Gottsein ist ohne Parteilichkeit und Ungerechtigkeit. Der Mensch ist Sein Geschöpf, Untertan und Diener und wird geboren, Ihm zu dienen und zu gehorchen.





 





Die richtige Lebensweise für den Menschen ist, in völligem Gehorsam gegenüber Gott zu leben.Nicht der Mensch hat die Form des Gottesdienstes und des Gehorsames zu bestimmen; die Entscheidung darüber ruht bei Gott. Gott der Herr erweckte von Zeit zu Zeit Propheten für die Rechtleitung der Menschheit und offenbarte durch sie Seine Bücher. Es ist die Pflicht des Menschen, die Gebote für sein Leben aus diesen Quellen göttlicher Rechtleitung zu entnehmen. Der Mensch ist Gott gegenüber für alle Taten in seinem Leben verantwortlich. Die Zeit, Rechenschaft abzulegen, wird im künftigen Leben und nicht in dieser Welt kommen.





 





Die kurze Zeitspanne des irdischen Lebens ist in Wirklichkeit eine Gelegenheit, sich auf die große Prüfung vorzubereiten. Alle Bemühungen des Menschen sollten sich in diesem Leben darauf konzentrieren, das Wohlgefallen und den Segen Gottes im Jenseits zu erbitten. Während dieser Prüfung ist jeder Mensch für alle seine Glaubensvorstellungen und Taten verantwortlich. Er wird mit all seinen Fähigkeiten und Anlagen der Prüfung unterzogen.





 





Es wird eine vollständige und unvoreingenommene Aufzeichnung über sein Verhalten im Leben durch ein Wesen geben, das nicht nur sein Tun und Treiben und dessen Einfluss auf alles, was es in der Welt gibt - vom winzigsten Staubfleckchen bis zum erhabensten Gebirge - aufbewahrt, sondern auch eine vollständige Niederschrift über seine innersten Gedanken, Gefühle und Absichten.





 





Das Ziel des ethischen Strebens





 





Das also ist die grundlegende Einstellung des Islâm dem Leben gegenüber. Diese Auffassung vom Kosmos und der Stellung des Menschen darin bestimmt das wahre und unbestreitbar Gute, welches das Ziel aller Bemühungen der Menschheit sein sollte und das man kurz als “Streben nach dem Wohlgefallen Gottes” bezeichnen könnte. Es ist der Maßstab, nach dem eine bestimmte Verhaltensweise als gut oder schlecht beurteilt und eingestuft wird. Dieser Beurteilungsmaßstab bildet den Kern, um den das gesamte ethische Verhalten kreisen sollte.





 





Der Mensch wurde nicht allein gelassen, wie ein Schiff ohne Vertäuung, von Windstößen hin- und hergerissen. Diese göttliche Weisung steckt für die Menschen ein alles beherrschendes Ziel ab und legt die Normen für alle ethisch motivierten Taten fest. Sie gibt uns eine festverankerte und makellose Wertordnung in die Hand, die unter allen Umständen unveränderlich bestehen bleibt. Darüber hinaus wird dadurch, dass die Erlangung des “WohlgefaIlen Gottes” zum Zweck des menschlichen Daseins gemacht wurde, der Menschheit ein höchstes und edelstes Ziel gesetzt.





 





Dadurch eröffnen sich unbegrenzte Mögllichkeiten für die moralische Entwicklung, ohne dass in irgendeinem Stadium auch nur der Schatten engstirniger Selbstsucht oder blindgläubiger Rassen- oder Völkerverherrlichung auftaucht.





 





Indem er uns mit einem natürlichen Bewertungsmaßstab versieht, stattet uns der Islâm auch mit Kriterien zur Bestimmung guten und schlechten Verhaltens aus. Unser Wissen um Laster und Tugend basiert nicht auf reinem Intellekt oder Wunschdenken, auf Intuitionen oder Erfahrungen, die wir unseren Sinnesorganen verdanken. Denn gerade diese sind ja ständigern Wechsel, Schwankungen und Veränderungen unterworfen und stellen keine festen, zuverlässigen und unveränderlichen Maßstäbe für ethisches Verhalten dar.





 





Der Islâm erschließt uns eine eindeutige Quelle, nämlich die göttliche Offenbarung, die im Buch Gottes und der Sunna (Lebensweise) des Propheten  möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken  niedergelegt ist. Diese Quelle schreibt uns einen Bewertungsmaßstab für ethisches Verhalten vor, der immerwährend und allgemeingültig ist und das Gute jederzeit und unter allen Umständen hochhält.





 





Der islâmische Sittenkodex schließt die kleinsten Einzelheiten des häuslichen Lebens ebenso wie die weiten Bereiche nationalen und internationalen Verhaltens ein. Er leitet uns in jeder Lebenslage. Diese Anweisungen sehen die weitest mögliche Anwendung moralischer Prinzipien in allen Angelegenheiten unseres täglichen Lebens vor und befreien uns aus der ausschließlichen Abhängigkeit von jeder anderen Wissensquelle, es sei denn, es handele sich dabei um eine Ergänzung zu dieser Hauptquelle.





 





Die Sanktion hinter der Ethik





 





Diese Vorstellung vom Kosmos und der Stellung des Menschen darin liefert auch die Sanktion, die jedem moralischen Gesetz zugrundeliegen muss, nämlich die Liebe zu und Furcht vor Gott, das Bewusstsein, Rechenschaft ablegen zu müssen am Tage des Gerichts und das Versprechen der ewigen Wonne und Belohnung im künftigen Leben.





 





Obwohl der Islâm eine weitverbreitete und stark verwurzelte Massenbeeinflussung anstrebt, die einzelne und Gruppen zum Festhalten an den vom Islâm dargelegten Grundsätzen der Ethik veranlassen soll und die gleichfalls auf die Entwicklung eines politischen Systems zielt, das das ethische Gesetz so weit wie möglich durch seine legislativen und exekutiven Kräfte stärken würde, hängt das ethische Gesetz des Islâm nicht wirklich von diesem äußerlichen Druck allein ab.





 





Es stützt sich auf den jedem Menschen innewohnenden Drang, Gutes zu tun, der auf dem Glauben an Gott und an den Tag des Gerichtes beruht. Bevor der Islâm irgendwelche ethischen Gebote festlegt, trachtet er danach, tief in das Herz des Menschen die Überzeugung einzupflanzen, dass sich sein Tun vor Gott abspielt, Der ihn jederzeit und allerorten sieht: dass er sich vor der ganzen Welt verstecken kann, nicht aber vor Ihm; daß er jeden betrügen kann, niemals aber Gott; dass er aus jedermanns Griff entfliehen kann, nicht aber aus dem Gottes; dass Gott seine innersten Absichten und Wünsche der Prüfung unterzieht, während die Welt nur das äußerliche Leben des Menschen sehen kann; dass er, wenn er mag, während seines kurzen Aufenthalts auf dieser Erde tun kann, was ihm beliebt, er aber auf jeden Fall eines Tages sterben und sich vor dem göttlichen Gerichtshof einfinden muss, wo ihm keine Verteidigung, Gunst, Empfehlung, falsche Auslegung, Täuschung oder Betrügerei von Nutzen sein wird und wo über seine Zukunft in vollkommener Unvoreingenommenheit und Gerechtigkeit entschieden wird.





 





Es mag oder mag auch nicht auf dieser Welt Polizei, Gerichte und Gefängnisse geben, um die Einhaltung dieser ethischen Gebote und Anweisungen zu erzwingen, aber es ist dieser tief im Herzen verwurzelte Glaube, der die wirkliche, dem islâmischen Sittenkodex zugrundeliegende Kraft darstellt und dazu beiträgt, dass er in die Tat umgesetzt wird.





 





Wenn öffentliche Meinung und Staatsgewalt diese Bestrebungen unterstützen, um so besser; ansonsten kann schon allein dieser Glaube den einzelnen Muslim und die gesamte muslimische Gemeinschaft auf dem geraden Pfad der Rechtschaffenheit halten, vorausgesetzt der Funke echten Glaubens wohnt in ihren Herzen.



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