
Grundsätzliche Voraussetzungen der islâmischen Lebensauffassung
1. Allâh, der Der Schöpfer, Der Lenker und Der Herr des Universums ist, hat den Menschen erschaffen und ihm einen vorübergehenden Aufenthalt in jenem Teil Seines unermesslich großen Königreichs - dem Kosmos - zugewiesen, den wir Erde nennen. Er hat den Menschen mit der Fähigkeit zu denken und zu verstehen ausgestattet und Er hat ihm die Möglichkeit gegeben, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Der Mensch ist außerdem mit einem freien Willen und eigener Entscheidungskraft begabt worden sowie mit der Fähigkeit, sich der Bodenschätze und aller natürlichen Hilfsquellen der Erde so zu bedienen, wie es ihm beliebt. Kurz und gut, dem Menschen wurde eine Art von Autonomie verliehen, da er zum Statthalter Gottes auf Erden bestellt worden ist.
2. Bevor Er dem Menschen die Statthalterschaft auf Erden anvertraute, hat Gott ihm ausdrücklich klargemacht, dass Er allein der Herr, der Beherrscher und der Lenker und die Gottheit ist. Deshalb müssen das gesamte Universum und alle seine Geschöpfe, die es beherbergt (einschließlich des Menschen) sich einzig und allein Ihm unterwerfen. Der Mensch darf nicht meinen, dass er vollkommen frei sei, sondern er muss sich stets bewusst sein, dass die Erde nicht sein ewigwährender Aufenthaltsort ist. Er kann auf ihr nur während der Zeit seiner Prüfung leben und wird letztendlich zu seinem Herrn zurückkehren, der ihn danach beurteilen wird, wie er von der Zeit seiner Prüfung Gebrauch gemacht hat. Der einzig richtige Weg, den der Mensch einschlagen kann ist, dass er Allâh als den einzigen Herrn, Erhalter und Gott anerkennt und in allen Lebensbereichen Seine Rechtleitung und Seine Gebote befolgt. Der Mensch muss sein Erdendasein durchleben in dem Bewusstsein, dass dereinst ein Urteil über ihn gefällt wird und es sollte sein einziges Bestreben sein, sich des göttlichen Wohlgefallens würdig zu erweisen, um die Schlussprüfung erfolgreich zu bestehen. Ein Verhalten, das dem zuwiderläuft, würde den Menschen irreführen.
Wenn der Mensch den Pfad der Frömmigkeit und Gottesfürchtigkeit einschlägt (den zu erwählen und zu befolgen ihm freisteht), dann wird ihm Erfolg in dieser und in der künftigen Welt beschieden sein: in dieser Welt wird er ein Leben voll Frieden und Zufriedenheit führen; und im Jenseits wird er sich als aufnahmewürdig in den Himmel der ewigwährenden Glückseligkeit, Al-Dschannât, erweisen.
Sollte er jedoch den anderen Weg, das heißt den der Gottlosigkeit und des Bösen einschlagen, (den zu erwählen und zu befolgen ihm gleichermaßen freisteht), dann wird sein Leben in dieser Welt voll des Verderbens, der Zerrissenheit und der Enttäuschung sein und im Jenseits wird furchtbares Unglück über ihn kommen, denn sein Aufenthalt wird dann jener Ort der Schmerzen und des Elends sein, den man Hölle nennt.
3. Nachdem ihm diese Warnung zuteil geworden war, sandte Gott den Menschen auf die Erde, wobei Er bereits dem allerersten von ihnen (Âdam- der erste Prophet Gottes auf Erden - und Eva) Seine Rechtleitung mit auf den Weg gab, nach der die Menschen auf Erden leben sollten.
Daher also begann das Leben der Menschen auf dieser Erde keineswegs in völliger Finsternis. Schon dem allerersten Menschen wurde eine brennende Fackel der Erleuchtung und Rechtleitung mitgegeben, damit die Menschheit ihrer großartigen Bestimmung gerecht werden konnte. Der erste Mensch erhielt offenbartes Wissen von Gott selbst.
Er wusste also um die Wahrheit und ihm war die Lebensweise aufgezeigt, durch deren Einhaltung er ein Leben des Segens und Erfolges führen konnte. Diese Lebensweise war der Islâm, die Bereitschaft zur vollkommenen Unterwerfung unter den Willen Gottes, des Schöpfers der Menschen und des gesamten Universums. Es war diese Religion, die Âdam, der erste Mensch, seinen Nachkommen weitergab.
Doch spätere Generationen entfernten sich allmählich immer weiter vom rechten Weg und schlugen andere, verkehrte Bahnen ein. Aus Nachlässigkeit verloren sie die ursprünglichen Lehren. Oder aber sie verfälschten und verdarben sie aus Dummheit oder weil sie Böses im Sinn hatten. Sie erhoben unzählige menschliche Wesen, nichtmenschliche Gegenstände und Phantasiegebilde zu Gottheiten, die sie dem Einen Gott zur Seite stellten und gaben sich der Vielgötterei (Schirk) schlimmster Art hin. Sie vermengten die reinen Lehren Gottes mit den seltsamsten Mythen, Ideen und Philosophien und brachten so einen wahren Dschungel von Religionen und Kulten hervor. Sie ließen die gottgegebenen Grundsätze der gesellschaftlichen Ethik und gesamten Moral, die Scharî’a, hinter sich und entledigten sich ihrer. Dadurch nahmen sie dem menschlichen Leben den Frieden und die Ruhe.
4. Obwohl die Menschen vom Weg der Wahrheit abgeirrt sind, die Scharî’a außer acht ließen und sie verfälschten und manche von ihnen sich sogar gegen die Vorschriften der göttlichen Rechtleitung auflehnten, hat Gott sie dennoch nicht untergehen lassen oder sie dazu gezwungen, den rechten Weg einzuschlagen. Erzwungenes Einschlagen des rechten Weges würde nicht der Selbständigkeit entsprechen, die Er dem Menschen eingeräumt hat. Stattdessen hat Gott bestimmte untadelige Menschen dazu berufen, jeweils bei ihrem eigenen Volk die verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen, den Leuten den rechten Weg ins Gedächtnis zurückzurufen und sie während ihres Erdendaseins rechtzuleiten. Diese Menschen glaubten an Gott und verbrachten ihr Leben im Gehorsam Ihm gegenüber. Er zeichnete sie durch Seine Offenbarungen aus und gab ihnen Wissen um die wahren Zusammenhänge.
Diese Menschen, die als Propheten bezeichnet werden ), erhielten den Auftrag, der Menschheit die Botschaft der Wahrheit zu übermitteln und die Menschen dazu aufzufordern, auf den Weg des Herrn zu kommen.
5. Diese Propheten wurden zu allen Zeiten, in allen Ländern und bei allen Völkern auserwählt. Ihre Zahl geht in die Tausende. Sie alle brachten dieselbe Botschaft, alle setzten sich für dieselbe Lebensweise (Dîn) ein, das heißt, die Art zu leben, die dem Menschen schon am allerersten Tag seines Erdendaseins offenbart worden ist. Sie alle folgten derselben Rechtleitung: der Rechtleitung, wie sie dem Menschen von seinem Herrn am Anfang seines Erdenweges vorgeschrieben worden ist. Sie alle setzten sich für dieselbe Sendung ein: sie riefen die Menschen zur Religion des Islâm auf und forderten von denen, die die göttliche Rechtleitung annahmen, dass sie ihr entsprechend leben sollten. Sie formierten ihre Anhänger zu einer Bewegung, die für die Einführung des göttlichen Rechts eintrat und deren gleichzeitiges Ziel es war, allen Abweichungen vom rechten Pfad einen Riegel vorzuschieben. Jeder der Propheten war bemüht, seine Sendung auf die beste Weise zu erfüllen. Doch eine große Zahl von Menschen schenkte ihrer Rechtleitung nie Gehör und viele von denen, die sie zunächst annahmen, ließen sich allmählich wieder davon abwendig machen und verloren nach einiger Zeit die Belehrungen oder entstellten ihren Inhalt durch Erneuerungen und Verzerrungen.
6. Schließlich entsandte Gott den Propheten Muhammad in das Land Arabien und beauftragte ihn damit, die Sendung zu vervollkommnen, für die vorausgegangene Propheten bereits auserwählt worden waren. Der Sendungsauftrag Muhammads
war für die gesamte Menschheit bestimmt. Er legte erneut die Lehren des Islâm in ihrer einstigen reinen Form dar und gab den Menschen abermals die Rechtleitung, die sie in ihrem ursprünglichen Sinn verloren hatten. Er fasste all jene, die seine Botschaft annahmen, in einer Gemeinschaft (Umma) zusammen, deren Aufgabe es war, ihr eigenes Leben wieder in Übereinstimmung mit den Lehren des Islâm zu bringen, die Menschheit auf den Pfad der Rechtschaffenheit zu rufen und die Vorherrschaft des Wortes Gottes auf Erden zu errichten. Diese Rechtleitung ist im Heiligen Qurân enthalten, der den einzig richtigen Leitfaden für die menschliche Verhaltensweise darstellt.
Der Glaube: Sein Wesen und seine Charakteristika I
Wir haben vorstehend die grundsätzlichen Voraussetzungen des Islâm behandelt, die einerseits den Plan erläutern, nach dem Gott dem Menschen Rechtleitung in dieser Welt zuteil werden lässt, und andererseits das Wesen des Menschen und seine Stellung sowie den Sinn seines Daseins auf Erden bestimmen.
Nun kommen wir zur Untersuchung der Grundlagen, auf denen der Qurân das Verhältnis des Menschen zu Gott zu entwickeln sucht, und der Lebensauffassung, die sich ganz natürlich aus diesem Verhältnis ergibt. Der Qurân befasst sich vielfach mit diesen Grundfragen, doch die insgesamt in ihm dargelegte Lebensauffassung findet ihren höchsten Ausdruck in dem folgenden Vers:
„Allâh hat von den Gläubigen ihre eigene Person und ihren Besitz dafür erkauft, dass ihnen der (Paradies)garten gehört: Sie kämpfen auf Allahs Weg, und so töten sie und werden getötet. (Das ist) ein für Ihn bindendes Versprechen in Wahrheit in der Tora, dem Evangelium und dem Qurân. Und wer ist treuer in (der Einhaltung) seiner Abmachung als Allâh? So freut euch über das Kaufgeschäft, das ihr abgeschlossen habt, denn das ist der großartige Erfolg!” (Sûra 9:111)
In dem hier angeführten Vers wird das Verhältnis, das zwischen dem Menschen und Gott durch den Glauben (arabisch Imân) entsteht, als “Kaufgeschäft” charakterisiert. Das bedeutet, dass der Glaube an Gott nicht lediglich eine metaphysische Vorstellung ist; er ist vielmehr seinem Wesen nach ein Vertrag, durch den der Mensch sein Leben und sein Hab und Gut bei Gott gegen das Paradies im jenseitigen Leben eintauscht. Gott erkauft also sozusagen Leben und Eigentum des Gläubigen und verspricht ihm dafür als Preis die Belohnung des Paradieses im Leben nach dem Tod. Dieser Begriff des Handels zieht wichtige Folgerungen nach sich und wir sollten darum zunächst einmal Folgendes verstehen.
Unbestreitbare Tatsache ist, dass absolut alles in dieser Welt Gott gehört. Er ist der wirkliche Eigentümer aller Dinge. Folglich gehören auch Leben und Besitz des Menschen, die ein Teil dieser Welt sind, ihm, denn Er ist es, Der sie erschaffen hat und Er ist es, Der sie jedem Menschen zu seinem Gebrauch zugeteilt hat.
Wenn man das Problem von diesem Blickwinkel aus betrachtet, erhebt sich die Frage irgendwelchen Verkaufs oder Kaufs überhaupt nicht. Gott ist der tatsächliche Eigentümer; darum gibt es ein Kaufen dessen, was schon Sein ist, eigentlich nicht: der Mensch ist nicht der wirkliche Besitzer, darum steht ihm auch nicht das Recht des Verkaufens zu. Doch es gibt eines, was dem Menschen übertragen worden ist und ihm nun ganz und gar gehört, und das ist sein freier Wille, die Freiheit, sich dafür zu entscheiden, den Weg Gottes zu befolgen oder nicht. Da der Mensch in dieser Hinsicht mit freiem Willen ausgestattet worden ist, steht es ihm frei, die wirklichen Gegebenheiten anzuerkennen oder nicht anzuerkennen.
Obwohl die Willens- und Entscheidungsfreiheit, die der Mensch besitzt, ihn nicht automatisch zum tatsächlichen Besitzer all der Kräfte und Hilfsmittel macht, die ihm zur Verfügung stehen, und er auch nicht das Recht hat, sich ihrer vollkommen willkürlich zu bedienen, und obwohl seine Anerkennung der letztlichen Wirklichkeit oder seine Weigerung, sie anzuerkennen, diese Wirklichkeit als solche in keiner Weise beeinträchtigt, so bedeutet es doch, dass es ihm freisteht, die Oberherrschaft Gottes anzuerkennen sowie Seine Verfügungsgewalt über das eigene Leben und Eigentum, oder aber dass er sich weigert, diese anzuerkennen und sich anmaβt, es stehe ihm völlige Unabhängigkeit zu. Er kann, sofern er will, sich als frei von jeglichen Verpflichtungen seinem Herrn gegenüber betrachten und meinen, dass ihm sämtliche Rechte und die Herrschaftsgewalt über alles zustehe, was er hat, und dass er sich daher all dessen seinen eigenen Wünschen entsprechend bedienen könne, ohne dass ein höheres Gesetz ihm Beschränkungen auferlegt.
Doch hier kommt die Frage des Tauschhandels nun ins Spiel: dieser Tauschhandel bedeutet nicht, dass Gott etwas einhandelt, was dem Menschen gehört, vielmehr verhält es sich in Wirklichkeit so: die gesamte Schöpfung gehört Gott, doch hat Er dem Menschen gewisse Gaben mitgegeben, damit er sich ihrer als von Gott Anvertrautem bediene. Und dem Menschen wurde die Freiheit eingeräumt, dies ihm Anvertraute aufrichtig zu verwalten, sofern er dies wünscht, oder aber das Vertrauen zu hintergehen und die Gaben zu missbrauchen. Gott verlangt nun, dass der Mensch bereitwillig und aus freien Stücken (und nicht unter Druck oder Zwang) die Dinge als die Seinen anerkenne, die Ihm auch tatsächlich gehören, und dass er sie als von Gott Anvertrautes benutze und nicht als etwas ihm Gehörendes, dessen er sich so bedienen kann, wie es ihm beliebt.
Daher veräuβert ein Mensch, der freiwillig darauf verzichtet, von der Freiheit, Gottes Oberherrschaft zu bestreiten, Gebrauch zu machen und stattdessen Seine Herrschaftsgewalt anerkennt und erhält dafür von Gott als Gegengabe das Versprechen der ewigen Glückseligkeit, die das Paradies ist. Ein Mensch, der einen solchen Tauschhandel eingeht, ist ein Gläubiger, ein Mu’min und Imân (Glaube) ist der islâmische Name für diesen Handelsvertrag; während derjenige, der nicht bereit ist, einen solchen Vertrag einzugehen oder, nachdem er diesen Vertrag abgeschlossen hat, ein Verhalten an den Tag legt, das dazu im Widerspruch steht und einem krassen Vertragsbruch gleichkommt, ein Ungläubiger ist und sein Versuch, den Vertrag zu umgehen oder abzuändern, mit dem Begriff Unglaube bezeichnet wird.