Die islâmische Auffassung über Leben und sittliches Verhalten
Der Standpunkt, den der Islam einnimmt, ist jedenfalls, dass dieses Universum die Schöpfung des Einen Gottes ist. Er erschuf es und Er allein ist sein unbestrittener Herr, Beherrscher und Versorger.
Das gesamte Universum steht unter Seinem göttlichen Gebot. Er ist weise, mächtig und allwissend. Er ist Subbûh und Quddûs, das heißt, Er ist frei von jeglichem Makel, allen Fehlern, Schwächen und Unzulänglichkeiten. Sein Gottsein ist ohne Parteilichkeit und Ungerechtigkeit. Der Mensch ist Sein Geschöpf, Untertan und Diener und wird geboren, Ihm zu dienen und zu gehorchen.
Die richtige Lebensweise für den Menschen ist, in völligem Gehorsam gegenüber Gott zu leben.Nicht der Mensch hat die Form des Gottesdienstes und des Gehorsames zu bestimmen; die Entscheidung darüber ruht bei Gott. Gott der Herr erweckte von Zeit zu Zeit Propheten für die Rechtleitung der Menschheit und offenbarte durch sie Seine Bücher. Es ist die Pflicht des Menschen, die Gebote für sein Leben aus diesen Quellen göttlicher Rechtleitung zu entnehmen. Der Mensch ist Gott gegenüber für alle Taten in seinem Leben verantwortlich. Die Zeit, Rechenschaft abzulegen, wird im künftigen Leben und nicht in dieser Welt kommen.
Die kurze Zeitspanne des irdischen Lebens ist in Wirklichkeit eine Gelegenheit, sich auf die große Prüfung vorzubereiten. Alle Bemühungen des Menschen sollten sich in diesem Leben darauf konzentrieren, das Wohlgefallen und den Segen Gottes im Jenseits zu erbitten. Während dieser Prüfung ist jeder Mensch für alle seine Glaubensvorstellungen und Taten verantwortlich. Er wird mit all seinen Fähigkeiten und Anlagen der Prüfung unterzogen.
Es wird eine vollständige und unvoreingenommene Aufzeichnung über sein Verhalten im Leben durch ein Wesen geben, das nicht nur sein Tun und Treiben und dessen Einfluss auf alles, was es in der Welt gibt - vom winzigsten Staubfleckchen bis zum erhabensten Gebirge - aufbewahrt, sondern auch eine vollständige Niederschrift über seine innersten Gedanken, Gefühle und Absichten.
Das Ziel des ethischen Strebens
Das also ist die grundlegende Einstellung des Islâm dem Leben gegenüber. Diese Auffassung vom Kosmos und der Stellung des Menschen darin bestimmt das wahre und unbestreitbar Gute, welches das Ziel aller Bemühungen der Menschheit sein sollte und das man kurz als “Streben nach dem Wohlgefallen Gottes” bezeichnen könnte. Es ist der Maßstab, nach dem eine bestimmte Verhaltensweise als gut oder schlecht beurteilt und eingestuft wird. Dieser Beurteilungsmaßstab bildet den Kern, um den das gesamte ethische Verhalten kreisen sollte.
Der Mensch wurde nicht allein gelassen, wie ein Schiff ohne Vertäuung, von Windstößen hin- und hergerissen. Diese göttliche Weisung steckt für die Menschen ein alles beherrschendes Ziel ab und legt die Normen für alle ethisch motivierten Taten fest. Sie gibt uns eine festverankerte und makellose Wertordnung in die Hand, die unter allen Umständen unveränderlich bestehen bleibt. Darüber hinaus wird dadurch, dass die Erlangung des “WohlgefaIlen Gottes” zum Zweck des menschlichen Daseins gemacht wurde, der Menschheit ein höchstes und edelstes Ziel gesetzt.
Dadurch eröffnen sich unbegrenzte Mögllichkeiten für die moralische Entwicklung, ohne dass in irgendeinem Stadium auch nur der Schatten engstirniger Selbstsucht oder blindgläubiger Rassen- oder Völkerverherrlichung auftaucht.
Indem er uns mit einem natürlichen Bewertungsmaßstab versieht, stattet uns der Islâm auch mit Kriterien zur Bestimmung guten und schlechten Verhaltens aus. Unser Wissen um Laster und Tugend basiert nicht auf reinem Intellekt oder Wunschdenken, auf Intuitionen oder Erfahrungen, die wir unseren Sinnesorganen verdanken. Denn gerade diese sind ja ständigern Wechsel, Schwankungen und Veränderungen unterworfen und stellen keine festen, zuverlässigen und unveränderlichen Maßstäbe für ethisches Verhalten dar.
Der Islâm erschließt uns eine eindeutige Quelle, nämlich die göttliche Offenbarung, die im Buch Gottes und der Sunna (Lebensweise) des Propheten niedergelegt ist. Diese Quelle schreibt uns einen Bewertungsmaßstab für ethisches Verhalten vor, der immerwährend und allgemeingültig ist und das Gute jederzeit und unter allen Umständen hochhält.
Der islâmische Sittenkodex schließt die kleinsten Einzelheiten des häuslichen Lebens ebenso wie die weiten Bereiche nationalen und internationalen Verhaltens ein. Er leitet uns in jeder Lebenslage. Diese Anweisungen sehen die weitest mögliche Anwendung moralischer Prinzipien in allen Angelegenheiten unseres täglichen Lebens vor und befreien uns aus der ausschließlichen Abhängigkeit von jeder anderen Wissensquelle, es sei denn, es handele sich dabei um eine Ergänzung zu dieser Hauptquelle.
Die Sanktion hinter der Ethik
Diese Vorstellung vom Kosmos und der Stellung des Menschen darin liefert auch die Sanktion, die jedem moralischen Gesetz zugrundeliegen muss, nämlich die Liebe zu und Furcht vor Gott, das Bewusstsein, Rechenschaft ablegen zu müssen am Tage des Gerichts und das Versprechen der ewigen Wonne und Belohnung im künftigen Leben.
Obwohl der Islâm eine weitverbreitete und stark verwurzelte Massenbeeinflussung anstrebt, die einzelne und Gruppen zum Festhalten an den vom Islâm dargelegten Grundsätzen der Ethik veranlassen soll und die gleichfalls auf die Entwicklung eines politischen Systems zielt, das das ethische Gesetz so weit wie möglich durch seine legislativen und exekutiven Kräfte stärken würde, hängt das ethische Gesetz des Islâm nicht wirklich von diesem äußerlichen Druck allein ab.
Es stützt sich auf den jedem Menschen innewohnenden Drang, Gutes zu tun, der auf dem Glauben an Gott und an den Tag des Gerichtes beruht. Bevor der Islâm irgendwelche ethischen Gebote festlegt, trachtet er danach, tief in das Herz des Menschen die Überzeugung einzupflanzen, dass sich sein Tun vor Gott abspielt, Der ihn jederzeit und allerorten sieht: dass er sich vor der ganzen Welt verstecken kann, nicht aber vor Ihm; daß er jeden betrügen kann, niemals aber Gott; dass er aus jedermanns Griff entfliehen kann, nicht aber aus dem Gottes; dass Gott seine innersten Absichten und Wünsche der Prüfung unterzieht, während die Welt nur das äußerliche Leben des Menschen sehen kann; dass er, wenn er mag, während seines kurzen Aufenthalts auf dieser Erde tun kann, was ihm beliebt, er aber auf jeden Fall eines Tages sterben und sich vor dem göttlichen Gerichtshof einfinden muss, wo ihm keine Verteidigung, Gunst, Empfehlung, falsche Auslegung, Täuschung oder Betrügerei von Nutzen sein wird und wo über seine Zukunft in vollkommener Unvoreingenommenheit und Gerechtigkeit entschieden wird.
Es mag oder mag auch nicht auf dieser Welt Polizei, Gerichte und Gefängnisse geben, um die Einhaltung dieser ethischen Gebote und Anweisungen zu erzwingen, aber es ist dieser tief im Herzen verwurzelte Glaube, der die wirkliche, dem islâmischen Sittenkodex zugrundeliegende Kraft darstellt und dazu beiträgt, dass er in die Tat umgesetzt wird.
Wenn öffentliche Meinung und Staatsgewalt diese Bestrebungen unterstützen, um so besser; ansonsten kann schon allein dieser Glaube den einzelnen Muslim und die gesamte muslimische Gemeinschaft auf dem geraden Pfad der Rechtschaffenheit halten, vorausgesetzt der Funke echten Glaubens wohnt in ihren Herzen.
Motive und Anreize
Diese islâmische Vorstellung vom Menschen und seiner Stellung im Universum bringt auch jene treibenden Kräfte hervor, die den Menschen dazu bewegen können, im Einklang mit dem ethischen Gesetz zu handeln. Die Tatsache, dass der Mensch freiwillig und bereitwillig Gott als seinen eigenen Schöpfer anerkennt und Gehorsam gegenüber Gott zu seinem Lebensgrundsatz macht und sich bemüht, Sein Wohlgefallen in all seinem Tun zu erlangen, bietet ausreichenden Ansporn, um den Geboten zu gehorchen, von denen er glaubt, dass sie von Gott kommen. Daneben liefert der Glaube an den Tag des Gerichts ebenso wie der Glaube daran, dass jeder, der die göttlichen Gebote befolgt, ganz gewiss ein gutes Leben im Jenseits, dem ewigen Leben haben wird, welchen Schwierigkeiten und Behinderungen er auch immer in dieser vergänglichen Lebensphase ausgesetzt sein mag, einen starken Ansporn zur Führung eines rechtschaffenen Lebens.
Dagegen ist der Glaube daran, dass jeder, der die Gebote Gottes in dieser Welt übertritt, ewige Strafe erleiden muss, einerlei was für ein oberflächlich betrachtet angenehmes Leben er während dieses zeitweiligen Aufenthalts auch geführt haben mag, eine wirksame Abschreckung gegen Übertretungen des ethischen Gesetzes. Wenn diese Hoffnung und diese Furcht tief im Herzen verankert und fest verwurzelt sind, werden sie eine starke treibende Kraft sein, die den Menschen zu guten Taten veranlasst, selbst dann, wenn deren weltliche Folgen schädlich oder ohne Nutzen zu sein scheinen, ebenso wie sie ihn von Üblem selbst dann abhält, wenn es sich äußerst anziehend und lohnend ausnimmt.
Das zeigt klar und deutlich, dass der Islâm ein fest umrissenes Kriterium zur Unterscheidung zwischen gut und schlecht besitzt, seine eigene ethische Gesetzesquelle und seine eigene Sanktion und treibende Kraft. Mit ihrer Hilfe setzt er die wohlbekannten und allgemein anerkannten moralischen Tugenden in allen Lebensbereichen durch, nachdem er sie in einem ausgewogenen und allumfassenden Schema miteinander verwoben hat. Es ist also durchaus gerechtfertigt zu behaupten, dass der Islâm eine eigene vollkommene ethische Wertordnung besitzt. Diese Wertordnung weist viele Merkmale auf, die nur ihr zu eigen sind.
Ich will mich mit den drei wichtigsten von ihnen befassen, die meiner Meinung nach als besonderer Beitrag zur Ethik bezeichnet werden können.
Bezeichnende Merkmale der ethischen Wertordnung im Islâm
1. Dadurch, dass die Erlangung des göttlichen Wohlgefallens zum Zweck des menschlichen Daseins erhoben wird, ist das höchstmögliche Niveau sittlichen Verhaltens aufgezeigt. Dadurch eröffnen sich der ethischen Entfaltung der Menschheit grenzenlose Möglichkeiten. Indem die göttlichen Offenbarungen zur Hauptquelle des Wissens gemacht werden, wird den moralischen Maßstäben Dauerhaftigkeit und Stabilität verliehen, wobei zwar ein angemessener Spielraum für wirklich notwendige Berichtigungen, Anpassungen und Neuerungen geboten wird, nicht aber für Verfälschungen, willkürliche Variationen, atomistischen Relativismus oder moralische Haltlosigkeit. In der Liebe und der Furcht vor Gott, die den Menschen zwingen, dem ethischen Gesetz auch ohne jeglichen Druck von außen zu gehorchen, ist die Sanktion für das sittliche Verhalten begründet.
Im Glauben an Gott und an den Tag des Gerichts liegt die treibende Kraft, die es dern Menschen ermöglicht, sich ernsthaft und aufrichtig, in tiefer Demut des Herzens und der Seele, um ein sittliches Verhalten zu bemühen.
2. Die ethische Wertordnung im Islâm tritt weder durch einen missverstandenen Drang zu Originalität und Innovationen für neuartige moralische Tugenden ein, noch sucht sie die Bedeutung der allgemein anerkannten Moralmaßstäbe herabzusetzen oder einigen übertriebene Wichtigkeit beizumessen, während sie andere grundlos vernachlässigt. Vielmehr werden alle allgemein anerkannten Tugenden aufgegriffen und jeder von ihnen mit einem Sinn für Ausgewogenheit und Proportion der passende Platz und die für sie zutreffende Funktion im gesamten Lebensplan zugewiesen. Dabei wird ihr Anwendungsbereich so erweitert, dass sie jeden Aspekt des menschlichen Lebens, sowohl des Einzelnen wie der Gemeinschaft, erfassen – den häuslichen Bereich ebenso wie das Verhalten als Bürger und die Aktivitäten auf politischem, wirtschaftlichem, juristischem, erzieherischem und sozialem Gebiet. Diese Wertordnung erstreckt sich auf das Leben des Menschen zu Hause bis hin zur Gesellschaft, vom Esstisch bis zu den Schlachtfeldern und Friedenskonferenzen, buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre.
Kurz, kein Lebensbereich ist von der universalen und umfassenden Anwendung der islâmischen Moralgrundsätze ausgenommen. Dem sittlichen Verhalten kommt die höchste Bedeutung zu und es wird gewährleistet, dass die Angelegenheiten des täglichen Lebens statt von egoistischen Zielen und untergeordneten Belangen von hohen Moralgrundsätzen beherrscht werden.
3. Die islâmische Wertordnung sieht für den Menschen eine auf dem Guten begründete und von allem Übel freie Lebensweise vor. Sie veranlasst die Menschen, Tugend nicht nur zu praktizieren, sondern die Tugend auch hochzuhalten und die Lasterhaftigkeit auszumerzen, Gutes zu gebieten und Schlechtes zu verbieten. Nach ihrem Willen soll die Gewissensentscheidung Vorrang genießen, während die Tugend nicht unterdrückt und nach dem Übel auf den zweiten Platz verwiesen werden darf. Diejenigen, die diesem Ruf folgen und sich zu einer Gemeinschaft (Umma) zusammenschließen, werden «Muslime» genannt. Und das einzige Ziel, das der Gründung der Gemeinschaft (Umma) zugrunde liegt ist, dass aufeinander abgestimmte Anstrengungen unternommen werden, um das Gute zu gebieten und durchzusetzen und das Schlechte zu verwehren und auszumerzen. Es wäre ein Unglück für diese Gemeinschaft und für die ganze Welt, wenn die Bemühungen eben dieser Gemeinschaft jemals darauf ausgerichtet sein sollten, dem Schlechten Vorschub zu leisten und dem Guten Hindernisse in den Weg zu legen.
Die politische Ordnung im Islâm basiert auf drei Grundsätzen, nämlich:
1. Auf der Einheit Allâhs (Tauhîd).
2. Auf dem Prophetentum (Risâla).
3. Auf dem Kalifat (Chilâfa).
Es ist schwierig, die verschiedenen Aspekte der islâmischen Verfassung ohne genaues Verständnis dieser drei Grundsätze richtig einzuschätzen. Ich werde deshalb mit einer knappen Darlegung hierüber beginnen.
1. Tauhîd (Einheit) bedeutet, dass ein Gott allein der Schöpfer, Erhalter und Herr des Universums ist sowie all dessen, was darin existiert – sei es organisch oder anorganisch. Die Herrschaft über dieses Königreich hat nur Er inne. Nur Er hat das Recht, zu gebieten und zu verbieten. Anbetung und Gehorsam gebühren allein ihm, niemand hat in irgendeiner Form Anteil daran. Das Leben in all seinen manigfaltigen Erscheinungsformen, unsere Körperorgane und unsere Fähigkeit, die scheinbare Kontrolle, die wir über alles, was im Kosmos existiert, haben, und die Dinge selbst – nichts von alledem wurde von uns geschaffen oder rechtmäßig erworben. Es sind allesamt die großzügigen Gaben Allâhs, und wenn Er sie uns schenkt, so hat niemand sonst Anteil daran.
Deshalb können wir weder Ziel noch Zweck unseres Daseins selbst bestimmen oder die Grenzen unserer weltlichen Macht festlegen, noch ist irgend jemand anderer berechtigt, diese Entscheidungen für uns zu treffen. Dieses Recht hat nur Allâh, Der uns erschaffen, uns mit geistigen und körperlichen Fähigkeiten beschenkt und alle materiellen Vorkehrungen zu unserem Nutzen getroffen hat. Dieser Grundsatz der Einheit Allâhs verneint die Vorstellung jeglicher gesetzlicher und politischer Herrschaftsgewalt des Menschen, sei es des einzelnen oder der Gemeinschaft. Niemand kann Anspruch auf die Herrschaftsgewalt erheben, weder als einzelner, als Familie, Klasse oder Gruppe von Menschen, ja selbst nicht als Gesamtheit der menschlichen Rasse in dieser Welt, Allâh allein ist der Herrscher und Seine Gebote sind das islâmische Gesetz.
2. Das Medium, durch das uns das Gesetz Allâhs übermittelt wurde, ist als „Risâla“ (Prophetentum) bekannt. Aus dieser Quelle haben wir zwei Dinge erhalten:
- das Buch, in dem Allâh Sein Gesetz erklärt hat. In dem Buch Allâhs sind die klaren Grundsätze dargelegt, auf denen die Lebensweise des Menschen basieren sollte.
- die maßgebende Interpretation und Veranschaulichung des Buches Gottes durch den Propheten , durch sein Wort und seine Tat in seiner Eigenschaft als Stellvertreter Gottes. Ferner hat uns der Prophet Allâhs in Übereinstimmung mit der Absicht des göttlichen Buches ein Vorbild für die islâmische Lebensweise gegeben. indem er die Gebote in die Praxis umsetzte und soweit erforderlich die notwendigen Einzelheiten festlegte.
Die Kombination dieser zwei Elemente heißt in der islâmischen Terminologie „Scharî’a“.
3. Und schließlich wollen wir das „Chilâfa“ betrachten, was wörtlich „Statthalterschaft“ bedeutet. Nach dem Islâm ist die wirkliche Stellung und der tatsächliche Platz des Menschen der eines Statthalters Gottes auf dieser Erde. Sein Statthalter, das heißt, der Mensch wird aufgrund der ihm von Gott übertragenen Fähigkeiten aufgefordert, die göttliche Herrschaftsgewalt auf dieser Erde innerhalb der von Gott vorgeschriebenen Grenzen auszuüben.
Nehmen wir zum Beispiel den Fall eines Grundstücks, das jemandem gehört und das in dessen Namen zu verwalten jemand anderer beauftragt wurde. Wie wir sehen werden, behalten in diesem Fall vier Bedingungen stets ihre Gültigkeit:
Erstens: Das wirkliche Besitzrecht bleibt beim Eigentümer und geht nicht auf den Verwalter über.
Zweitens: Der Verwalter wird den Besitz nur in Übereinstimmung mit den Anweisungen des Eigentümers verwalten.
Drittens: Er wird seine Machtbefugnis nur innerhalb der vom Eigentümer für ihn vorgeschriebenen Grenzen ausüben.
Viertens: Er wird er in der Verwaltung des ihm anvertrauten Besitzes den Willen des Eigentümers ausführen und seine Absichten erfüllen und nicht seine eigenen.
Diese vier Bedingungen sind in dem Begriff „Statthalterschaft“ so fest verankert, dass sie einem in den Sinn kommen, sobald man das Wort „Statthalterschaft“ vernimmt. Erfüllt ein Statthalter diese vier Bedingungen nicht, wird er natürlich beschuldigt, die Grenzen seiner Stellung als Statthalter überschritten und das Bündnis, das in dem Begriff der „Statthalterschaft“ enthalten ist, gebrochen zu haben.
Das genau ist es, was der Islâm meint, wenn er erklärt, der Mensch sei der Statthalter Gottes auf Erden (Chalîfa). Der Begriff (Chalîfa) umfasst also auch diese vier Bedingungen. Der in Übereinstimmung mit dieser politischen Theorie errichtete Staat wird tatsächlich ein menschliches Kalifat unter der Herrschaft Allâhs sein, und er wird den Zweck und die Absicht Allâhs erfüllen, indem er auf Gottes Erde innerhalb der von Ihm abgesteckten Grenzen und im Einklang mit Seinen Anweisungen und Geboten funktioniert.