Sittliche Verantwortung des Individuums in der islâmischen Wertordnung
Die islâmische Wertordnung legt großes Gewicht auf die sittliche Verantwortung des Individuums. Jeder Mensch ist für seine eigenen Taten verantwortlich. Wenn dem so ist, besteht im Islâm keine Erbsünde.
Die Dynamik des Islâm verpflichtet den Einzelnen jedoch die Zusammenarbeit mit der Gemeinschaft in einem Rahmen, der diese Zusammenarbeit zu eigener Tat bzw. eigener Verantwortung macht und zugleich die privaten Angelegenheiten anderer Gemeinschaftsmitglieder in Schutz nimmt. Dabei trägt der Einzelne den sittlichen Kodex der Gemeinschaft und die Gemeinschaft die sittliche Summe ihrer Einzelnen.
Indes, im Einzelnen bedeutet der Islâm einerseits die offenbarten Texte, die Allâh/Gott zur Deutung seiner Religion herabsandte, andererseits die Handlungen des Menschen gemessen an diesen Texten.
Der Islâm, wie ihn eine deutsche Kennerin beschreibt, ist „ein in allen seinen Aspekten von einer Zentralmacht zeugendes Gebilde.” Diese Zentralmacht ist Allâh.
„Die ungeheure Gegenwart Gottes, dem Menschen „näher als seine Halsschlagader,“ (Sûra 50:16)und doch in absoluter Transzendenz und Einzigartigkeit niemals durch menschliches Sinnen und Trachten zu erreichen, steht im Mittelpunkt seiner [d. h. des Muslims] Betrachtungen [...] der Muslim weiß, daß er keinen Atemzug tun kann, ohne diesem allgewaltigen Herrn verantwortlich zu sein – daher die Pflicht, auch die kleinsten Gebote einzuhalten und die scheinbar unwichtigsten Handlungen des Lebens zu heiligen.
Diese Gewissheit der Gegenwart Gottes aber liegt auch dem sogenannten islâmischen ‘Fatalismus’ zugrunde: es ist kein Glaube an ein blindes Fatum, sondern das Vertrauen auf einen unendlich weisen Herrn, der in seiner Allwissenheit die Welt so lenkt, wie es am besten ist...“ (Annemarie Schimmel)
Dieses Prinzip lässt den Muslim genau erkennen, dass er alleine für alles, was er macht, vor Gott verantwortllich ist. So lernt der Muslim, mit seinem Werk nur eins zu berücksichtigen, Allâhs Wohlgefallen zu erreichen. Islâm bringt uns bei, wie man von sich aus das Recht unterstützt und das Unrecht bekämpft, egal ob es sich auf ihn selbst bezieht oder auf andere.
Ein wesentlicher Anhaltspunkt in diesem Zusammnenhang ist es ferner, dass der Islâm uns nicht nur theoretische Ansichten erteilt, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, sondem er gibt praktische Anweisungen, welche die Muslime sofort in die Tat umsetzen müssen.
Ihr Beispiel ist der Prophet Muhammad , der alle positiven menschlichen Eigenschaften trägt, und über den der Qurân sagt:
„Und Wir haben dich nur als Barmherzigkeit für die Weltenbewohner gesandt.” (Sûra 21:107)und „Ihr habt ja im Gesandten Allâhs ein schönes Vorbild, (und zwar) für einen jeden, der auf Allâh und den Jüngsten Tag hofft und Allâhs viel gedenkt.“ (Sûra 33:12)
Dieses “schöne Beispiel” für alle Muslime zeigt uns die vorbildliche - jedoch immer nur menschliche - Verhaltensweise sowohl in den profanen wie auch in den religiösen Angelegenheiten. Der Prophet ist kein Gott, kein Sohn Gottes, kein Engel, er ist ein Mensch, in dem Allâhs vollkommene Schöpfung eines Menschen sich demonstriert.
Allgemeine Eigenschaften des Islâm
Die islâmische Wertordnung geht von der völligen Ergebung in den Willen Allâhs aus, wie sie nur ein strikter Monotheismus auffassen kann. Die Einheit Allâhs, die im Mittelpunkt dieser Wertordnung steht, bewirkt die Einheit und Allgemeinheit dieser Wertordnung. Sie umfasst das Gegebene und das Verborgene. Das Verborgene, von dem Allâh und seine Gesandten berichteten:
Allâh selbst, seine Engel, seine Gesandten, seine Schriften, der Tag des jüngsten Gerichtes und das prädestinierte Schicksal, welches jedoch die eigene Verantwortung des Menschen nicht aufhebt.
Um die Totalität und die Einheit im Allgemeinen darzustellen, geben wir ein Beispiel auf geschichtlich-religiöser Ebene:
Der Muslim fühlt sich nicht nur mit Muhammad verbunden, der sich übrigens als Prophet, Gesandter und Knecht Allâhs verstand und auch so von den Muslimen angesehen wird, sondern darüber hinaus mit allen Propheten wie Âdam, Idrîs, Nûh, Ibrâhîm, Israîl, Ishâq, Mûsâ und Îsâ und zudem auch mit ihren Anhängern.
Diese Propheten sind alle Allâhs Diener, und der Muslim muss an ihre Botschaften glauben, sonst gilt er nicht als Muslim. Muhammad ist der letzte dieser hochrangigen Gesandten Allâhs, die als Gnade für die Menschheit geschickt wurden und die dieselbe Botschaft in verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Formen zu verkünden hatten, nämlich an den einzigen und allmächtigen Allâh zu glauben, Ihn zu lieben, Ihm zu dienen und das Leben nach Seinen Grundsätzen zu führen. Diese Gesandten Allâhs sind alle Menschen, aber Menschen höchsten Ranges, die uns lehren, wie wir glauben und wie wir Allâh auf eine von Ihm gewollte Weise verehren und dienen können.
Die Botschaft dieser Propheten und Gesandten Allâhs ist immer dieselbe:
„Er hat euch von der Religion festgelegt, was Er Nuh anbefahl und was Wir dir (als Offenbarung) eingegeben haben und was Wir Ibrahim, Musa und 'Îsa anbefahlen: Haltet die (Vorschriften der) Religion ein und spaltet euch nicht darin (in Gruppen). Den Götzendienern setzt das schwer zu, wozu du sie aufrufst. Allâh erwählt dazu, wen Er will, und leitet dazu, wer sich (Ihm) reuig zuwendet.“ (Sûra 42:13)
„Sagt: Wir glauben an Allâh und an das, was zu uns (als Offenbarung) herabgesandt worden ist, und an das, was zu Ibrâhîm, Isma'îl, lshâq, Ya`qûb und den Stämmen herabgesandt wurde, und (an das,) was Mûsâ und 'Îsa gegeben wurde, und (an das,) was den Propheten von ihrem Herrn gegeben wurde. Wir machen keinen Unterschied bei jemandem von ihnen, und wir sind Ihm ergeben.“ (Sûra 2:136)
Der brüderliche Bund zwischen allen Propheten wird auch in folgender Überlieferung des Gesandten Muhammad betont: „Mein Beispiel mit den früheren Prophet ist wie ein Mann. der ein Haus schön gebaut und verziert hat, bis auf eine Stelle, wo ein Baustein fehlt. Die Menschen gehen um den Bau umher und wundern sich über seine Schönheit, sagen aber: Hätte er an der Stelle einen Baustein gesetzt? ich bin dieser Bausteine und ich bin der abschließende Prophet.“ (Al-Buchârî und Muslim)
Weiter betont der Qurân die religiöse Einheit, indem Gott der Erhabene sagt: „O ihr Gesandten, esst von den guten Dingen und handelt rechtschaffen; gewiss, Ich weiß über das, was ihr tut, Bescheid. Gewiss, diese ist eure Gemeinschaft, eine einzige Gemeinschaft, und Ich bin euer Herr; so fürchtet Mich! ” (Sûra 23:51-52)
Auf diese Weise wird die religiöse Einheit hervorgehoben, so dass es keinen Grund mehr geben kann, um religiöse Kriege zu führen, denn die Religion ist nur eine, die gläubige Gemeinschaft ist auch eine, trotz allen gesellschaftlichen, geographischen, wirtschaftlichen und anderen Unterschieden. Allâh hat uns nur eine Botschaft durch viele Gesandten verkündet.
Die Widerlegung der sogenannten Orientalisten
Die Behauptung mancher Orientalisten, Muhammad habe seine Religion durch Wissen, das er sich von christlichen und jüdischen Gelehrten angeeignet hat zusammengebaut stimmt nicht. Diese Aussage, hält keiner wissenschaftlichen Diskussion stand.
Denn wenn das richtig wäre, woher hat Muhammad denn diese selbstständigen Ansichten bekommen, die sich sowohl auf den Glauben, wie auch auf das islâmische Gesetz und den islâmischen Gottesdienst beziehen, dessen Rituale vorher niemand kannte?
Wie ist diese streng monotheistische Vorstellung von Allâh entstanden, eine Vorstellung, die in allen Quellen des Islâm einheitlich ist, und die in allen anderen (verfälschten) Quellen der anderen Religionen seinesgleichen sucht?
Woher hat Muhammad die verblüffenden Gesetze der Erbschaft im Islâm erhalten, derengleichen es weder im Judentum noch im Christentum gibt, und die zu entwerfen eines ganzen Teams von Mathematikern bedürfte?
Wieso konnte er, angeblich Schüler christlicher und jüdischer Gelehrter, alle Widersprüche vermeiden, die sich auf die menschlichen Kenntnissen und Wissenschaften, auf Himmel, Erde, Fauna, Flora, Wasser, Berge, Genesis, Geschichte usw. beziehen, mit denen die Bücher seiner Lehrer erfüllt sind?
Trotzdem sind wir völlig davon überzeugt, dass Allâhs Wort in der Thora wie auch im Evangelium genauso richtig ist wie im Qurân. Doch leider hat die menschliche Hand das Wort Allâhs in den frühen Schriften verfälscht und allein der Qurân ist mit Allâhs Schutz richtig und unverfälscht geblieben.
Daher findet man in ihm keinen einzigen Widerspruch, sowohl in seinen Sûren, als auch in Bezug auf die neuen Errungenschaften der modernen Wissenschaften.
Wie konnte Muhammad das alles vermeiden, wenn er von den Schriftbesitzern gelernt hat, deren Schriften voller Widersprüche sind?
Das allumfassende Spektrum der islâmischen Wertordnung
Die islâmische Weltsicht umfasst alle Orte, Zeiten und Angelegenheiten:
Am Anfang des Qurâns wird das betont: „(Alles) Lob gehört Allâh, dem Herrn der Welten.“ (Sûra 1:2) und auch zu dessen Ende: „Sprich: Ich nehme Zuflucht beim Herrn der Menschen, dem König der Menschen, dem Gott der Menschen.“ (Sûra 114:1-3)
Dazwischen stehen zahlreiche Verse in verschiedenen Sûren, die deutlich zeigen, dass die islâmische Religion sich als umfassende Botschaft betrachtet, die für alle Menschen verkündet wurde.
Allâh spricht zu Muhammad erklärend: „Und Wir haben dich nur als Barmherzigkeit für die Weltenbewohner gesandt.“ (Sûra 21:107)
„Gewiss, Wir haben dich mit der Wahrheit gesandt als Frohboten und als Warner. Und du wirst nicht nach den (Taten der) Insassen des Höllenbrandes gefragt werden.“ (Sûra 2:119)
„Gewiss, Wir haben dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, damit du zwischen den Menschen richtest auf Grund dessen, was Allâh dir gezeigt hat. Sei kein Verfechter für die Verräter!“ (Sûra 4:105)
Diese Beispiele zeigen, dass der Islâm sich nicht als eine Religion für ein Volk, eine Rasse oder ein geographisches Gebiet versteht, sondern für alle Menschen. Der Qurân hat mehrmals betont, dass dieser Begriff „Islâm“ für alle Formen der Himmelsreligionen seit Adam gilt. Deswegen sind für den Muslim alle Propheten und Allâhs Gesandten Vorbilder.
Diese Wertordnung umfasst den Menschen in all seinen Seiten, sein Leben in allen Bereichen, das All in der Gesamtheit seiner Dimensionen. Die auffälligste Eigenschaft des islâmischen Wertkodex ist die uneingeschränkte Totalität. Glaube und Moral; Gesetz und Gottesdienst; Vergangenheit und Gegenwart; Geist und Macht; Seele und Körper, Weltliches und Geistliches; Politik; Einzelner und Gemeinschaft; Vertragssystem und Alltag; Wirtschaft, Landwirtschaft und Handel; Ehe, Scheidung und Erbe; Wissen um den Menschen, um die Fauna, die Flora und um das Universum usw. sind alle im Qurân und in der prophetischen Überlieferung mehr oder weniger detailliert behandelte Themen, wobei eine klare Dynamik zwischen Konstanten und Varianten besteht.
Dieses Wertsystem hat sein reales Vorbild in Muhammad und der Nachfolgezeit gehabt. Auch die späteren Zeiten haben sich mehr oder weniger mit dieser Wertordnung identifiziert. Abgesehen von einigen Zeitspannen, in denen die politischen Herrscher die islâmische Wertordnung nicht angemessen beachtet haben, ist sie das erstrebte Musterbeispiel aller Muslime geblieben. Bis heute sehnt sich jeder Muslim nach einer tadellosen Nachahmung Muhammads und seiner Gefährten, d.h. die Beachtung der Grundsätze dieser Wertordnung. Denn diese Wertordnung hebt die persönliche Verantwortung hervor. Der Einzelne muss sich bemühen, sich damit zu identifizieren. Die Summe der Einzelnen bilden in ihrer Gemeinschaft ein menschliches Gebilde, das sich auch an den Grundsätzen dieser Wertordnung misst, und welches Selbstkritik nicht scheut und immer den Willen zum besseren Tun hat.
Die Konstanten in der islâmischen Wertordnung sind eigentlich wenige Grundsätze, welche sich auf die Glaubenslehre, Moral und Ethik und manche gesetzliche und gottesdienstliche Regeln beziehen.
Diese stellen bei jedem Muslim die unbezweifelbaren Bestandteile des Wertsystems dar, sie sind die Axiome, die anzuerkennen sind, da sie die Unterscheidung zwischen einem Muslim und einem Nicht-Muslim darstellen. Denn diese Regeln sind die Ecksteine des islâmischen Wertsystems, die Orientierungspunkte, die auch ein Mindestmass des einheitlichen Glaubensdenkens garantieren. Jeder Muslim muss diese Regeln beachten und ihnen folgen.
Neben diesen gibt es aber tausendfache Variablen, die unterschiedliche Deutungen dulden und flexible Bedeutungen ermöglichen, so dass man in ihnen die Lösungen der orts- und zeitbedingten Probleme suchen kann. In diesen Rahmen kommen die Leistungen der Islamwissenschaftler (Gelehrten), die auf Grund der wenigen festen Regeln die vielen flexiblen interpretieren können und für die unzählbaren Fragen des Alltags, der modernen Forschung usw. nach Antworten suchen. Aus diesem Grunde nennt man diese Gelehrte Mudschtahidûn, d.h. diejenigen, die sich eifrig und fleißig in rechtlich-theologischen Fragen anstrengen.
Der Islâm verlangt dabei von diesen Gelehrten nichts Besonderes außer Wissen und Gottesfurcht. Ihnen wird für dieses Wissen keine besondere irdische Machtstellung gegeben, keine weltliche Belohnung außer der Liebe und Respekt von den Muslimen. Diese Gelehrten ihrerseits verlangen, wie das größte Vorbild Muhammads, keinen Lohn für ihre Arbeiten, sie hoffen nur, dass sie das Richtige nicht verfehlen, damit sie Gottes Lohn erhalten können. Jeder Muslim und jede Muslima kann Gelehrte sein, wenn bei ihm bzw. bei ihr Wissbegierde und Gottesliebe vorhanden sind und wenn er bzw. sie die nötige wissenschaftliche Kompetenz zeigen kann. Denn im Islâm gibt es keinen Klerus; jeder Muslim ist beauftragt, seine religiösen Kenntnisse auszubauen, soweit es ihm möglich ist und seine theoretischen Kenntnisse politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, in der Moschee oder am Arbeitsort in die Praxis umzusetzen.
Das spiegelt die Auffassung des islâmischen Begriffs von Gott wider; Er ist Gott des Irdischen wie des Geistlichen, Seine Macht und Seine Herrschaft umschließen alles. Er ist Herr des Diesseits wie des Jenseits.
Die islâmische Weltanschauung teilt sich nicht in Gott und Welt, Teuflisches und Göttliches oder Gott und Kaiser, sondern alles unterliegt der göttlichen Kontrolle. Er ist Besitzer, Herrscher und Erhalter, dem nichts entgeht und sei es ein Atom im Himmel oder auf Erden.
Alles geht nach Seinem Willen und ein Teil dieses Willens ist die Schaffung der Gegensätze:
Teufel und Engel, Gutes und Böses usw. durch deren dauerhafte Konfrontation miteinander sich die göttliche Weisheit durchsetzt, um durch diese Prüfung das Gute auszuzeichnen und schließlich großzügig zu belohnen. So muss sich jeder Mensch bemühen, Gottes Gebote zu befolgen, weil alle vor Gott gleich sind, d.h. ihre Taten werden mit derselben Waage gewogen, weswegen es keine verschiedenen Formen der Religion gibt, eine z.B. für Priestertum und eine für das Volk. Unter allen gilt bei Gott nur ein Auszeichnungskriterium: Gottesfurcht, die mit der Liebe zu ihm verknüpft ist.