11. Der wahre Muslim glaubt, dass der Mensch sein Seelenheil durch die Führung Gottes erlangt. Dies bedeutet, dass der Mensch Glaube und Handeln sowie Überzeugung und Praxis kombinieren muss, um sein Seelenheil zu erlangen. Glaube ohne Handeln ist genauso unzureichend wie Handeln ohne Glauben. Anders ausgedrückt kann man erst dann Seelenheil erlangen, wenn der Glaube an Gott in seinem Leben dynamisch wird und seine Überzeugungen in die Praxis umgesetzt werden. Dies steht in völligem Einklang mit den anderen Glaubensartikeln im Islâm. Es zeigt, dass Gott keine Lippenbekenntnisse akzeptiert, und dass kein wahrer Gläubiger gegenüber den praktischen Erfordernissen des Glaubens gleichgültig sein kann. Es zeigt außerdem, dass niemand im Namen eines anderen handeln oder zwischen ihm und Gott vermitteln kann (siehe beispielsweise Sûra 10:9-10; 18:30; 103:1-3).
12. Der wahre Muslim glaubt, dass Gott niemanden zur Verantwortung zieht, ohne ihm den rechten Weg gezeigt zu haben. Aus diesem Grunde entsandte Gott viele Gesandte und Offenbarungen und machte deutlich, dass Er erst dann bestraft, wenn Er Führung gewährt und Alarm geschlagen hat. Daher ist ein Mensch, der niemals irgendeiner göttlichen Offenbarung oder einem Gesandten begegnete, oder ein geisteskranker Mensch gegenüber Gott für die Nichtbefolgung der göttlichen Anweisungen nicht verantwortlich. Derartige Menschen werden lediglich dafür verantwortlich gemacht, nicht das getan zu haben, was ihr vernünftiger Menschenverstand ihnen vorschreibt. Ein Mensch, der jedoch wissentlich und absichtlich das Gesetz Gottes missachtet oder von Seinem rechten Weg abweicht, wird für seine falschen Taten bestraft (Sûra 4:165; 5:16 und 21; 17:15).
Dieser Aspekt ist für jeden Muslim sehr wichtig. Es gibt viele Menschen auf der Welt, die nichts vom Islâm gehört haben und keine Möglichkeit haben, etwas über ihn zu erfahren. Diese Menschen könnten aufrichtig sein und gute Muslime werden, falls sie ihren Weg zum Islâm fänden. Falls sie keine Kenntnis darüber besitzen und keine Möglichkeit haben, davon zu erfahren, werden sie für ihr Leben als Nicht-Muslime nicht verantwortlich gemacht werden. Vielmehr werden die Muslime, die diesen Menschen den Islâm präsentieren könnten, dafür verantwortlich gemacht werden, dass sie sie nicht zum Islâm einluden und ihnen nicht zeigten, was Islâm ist. Dies ist ein Aufruf an alle Muslime auf der Welt, den Islâm nicht nur mit Worten zu verkünden, sondern – was noch wichtiger ist – ihn auch richtig zu leben (siehe beispielsweise Sûra 3:104; 16:125)!
13. Der wahre Muslim glaubt, dass die von Gott erschaffene menschliche Natur mehr Gutes als Verwerfliches enthält und die Wahrscheinlichkeit auf eine Besserung größer ist als die Wahrscheinlichkeit auf ein hoffnungsloses Versagen. Diese Überzeugung wird von der Tatsache abgeleitet, dass Gott den Menschen bestimmte Aufgaben erteilt und Gesandte mit Offenbarungen zu ihrer Rechtleitung entsandte. Wie könnte Gott mit Seiner uneingeschränkten Weisheit dem Menschen Verantwortlichkeiten zuweisen und ihn dazu auffordern, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, wenn der Mensch von Natur aus ein hoffnungsloser Fall und nicht besserungsfähig wäre? Warum sollte Gott dies tun, wenn wir alle nutzlos wären? Die Tatsache, dass Gott für den Menschen sorgt und in Wahrung seiner Interessen handelt, beweist, dass der Mensch weder hilflos noch hoffnungslos ist, sondern empfänglicher für das Gute und geneigter zum Guten als im gegenteiligen Fall. Mit einem festen Glauben an Gott und dem gebührenden Vertrauen in den Menschen können wahrhaftig Wunder vollbracht werden, selbst in unserer heutigen Zeit. Um dies richtig zu verstehen, sollte man die relevanten Textstellen im Qurân lesen und über deren Bedeutungen nachdenken!
14. Der wahre Muslim glaubt, dass der Glaube nicht vollständig ist, wenn dieser blind befolgt oder ohne zu hinterfragen akzeptiert wird, es sei denn, der Gläubige ist davon begründet überzeugt. Wenn der Glaube zum Handeln anregt und wenn Glaube und Handeln zum Seelenheil führen, dann muss der Glaube auf unerschütterlichen Überzeugungen beruhen, ohne jeglichen Trug oder Zwang. Anders ausgedrückt ist der Mensch, der sich auf Grund seiner Familientraditionen als Muslim bezeichnet oder den Islâm unter Zwang oder blinder Nachahmung annimmt, aus Sicht Gottes kein vollständiger Muslim. Ein Muslim muss seinen Glauben auf wohlbegründeten Überzeugungen errichten, ohne jegliche Zweifel und Ungewissheit. Wenn er sich unsicher über seinen Glauben ist, dann ist er von Gott eingeladen, im offenen Buch der Natur zu suchen, seinen Scharfsinn und sein logisches Denkvermögen zu nutzen und über die Lehren des Qurân nachzudenken. Er muss nach der unbestreitbaren Wahrheit suchen, bis er sie findet! Und er wird sie gewiss finden, sofern er geschickt und ernsthaft genug ist (siehe beispielsweise Sûra 2:170; 43:22-24).
Aus diesem Grunde erfordert der Islâm feste Gewissheit und lehnt blinde Nachahmung ab. Jeder Mensch, der als aufrichtig und ernsthaft denkender Mensch gebührend befähigt ist, wird vom Islâm eindringlich dazu ermahnt, in vollem Umfang von seinen Fähigkeiten Gebrauch zu machen. Ist ein Mensch jedoch nicht dazu imstande oder unsicher, dann sollte er nur soweit denken, wie seine Fähigkeiten es ihm erlauben. Für derartige Menschen genügt es völlig, sich lediglich auf die authentischen und an sich ausreichenden Quellen der Religion zu stützen, ohne sie jeglicher kritischen Befragung zu unterziehen, zu der sie nicht fähig sind. Es geht darum, dass sich niemand selbst als wahren Muslim bezeichnen darf, falls sein Glaube nicht auf festen Überzeugungen beruht und sein Verstand nicht frei von Zweifeln ist. Da der Islâm nur dann vollständig ist, wenn er auf festen Überzeugungen und Entscheidungsfreiheit beruht, kann er niemandem aufgezwungen werden, da Gott diesen aufgezwungenen Glauben nicht akzeptiert. Er betrachtet ihn auch nicht als wahren Islâm, falls er nicht aus dem Inneren hervorgeht oder freien und vernunftgemäßen Überzeugungen entspringt. Da der Islâm Glaubensfreiheit gewährleistet, lebten und leben noch heute viele nicht-muslimische Gruppierungen in muslimischen Ländern und genießen völlige Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die Muslime besitzen diese Geisteshaltung, da der Islâm Religionszwang verbietet. Das Licht muss vom Inneren ausströmen, da die Entscheidungsfreiheit der Grundpfeiler der Verantwortung ist. Dies befreit die Eltern allerdings nicht von ihrer Verantwortung gegenüber ihren Kindern. Noch billigt es ihnen zu, gleichgültig gegenüber dem seelischen Wohlempfinden ihrer Angehörigen zu sein. Vielmehr müssen sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihnen dabei zu helfen, einen starken, inspirierenden Glauben zu entwickeln.
Zur Errichtung des Glaubens auf soliden Fundamenten gibt es verschiedene parallel laufende Möglichkeiten. Es gibt einen spirituellen Ansatz, der hauptsächlich auf dem Qurân und den Überlieferungen Muhammads beruht. Außerdem gibt es einen rationalen Ansatz, der letztendlich zum Glauben an das Höchste Wesen führt. Dies bedeutet nicht, dass es dem spirituellen Ansatz an aussagekräftiger Rationalität mangelt. Dem rationalen Ansatz mangelt es auch nicht an inspirierender Spiritualität. Beide Ansätze ergänzen sich vielmehr gegenseitig und können sehr wohl in ein dynamisches Zusammenspiel miteinander geraten. Ist ein Mensch nun mit ausreichender Verstandeskraft ausgestattet, kann er aus dem rationalen Ansatz, aus dem spirituellen Ansatz oder aus beiden Nutzen ziehen und überzeugt davon sein, dass seine Schlussfolgerung richtig sein wird. Ist ein Mensch jedoch zu einer tiefgründigen Recherche nicht imstande oder sich seines logischen Denkvermögens ungewiss, dann kann er sich auf den spirituellen Ansatz beschränken und sich mit dem Wissen begnügen, das er aus den authentischen Quellen der Religion bezieht. Es geht darum, dass unabhängig davon, ob man den spirituellen Ansatz, die verstandesmäßige Methode oder beides verwendet, man letztendlich zum Glauben an Gott gelangt. All diese Möglichkeiten sind gleichermaßen wichtig und vom Islâm akzeptiert. Werden sie richtig gelenkt, führen sie zum gleichen Ziel, nämlich zum Glauben an das Höchste Wesen (Sûra 5:16-17; 12:109; 18:30; 56:80).
15. Der wahre Muslim glaubt, dass der Qurân das Wort Gottes ist, das Muhammad durch die Übermittlung des Engels Gabriels offenbart wurde. Der Qurân wurde von Gott nach und nach zu verschiedenen Anlässen offenbart, um bestimmte Fragen zu beantworten, bestimmte Probleme zu lösen, bestimmte Streitigkeiten beizulegen und der beste Wegweiser für den Menschen zur Wahrheit Gottes und zu ewiger Glückseligkeit zu sein. Jeder Buchstabe im Qurân ist das Wort Gottes. Der Qurân ist die erste Quelle des Islâm. Er wurde in Arabisch offenbart, liegt immer noch in seiner vollständigen arabischen Fassung vor und wird dies immer tun, da Gott es Sich zur Aufgabe machte, den Qurân zu bewahren, ihn stets zum besten Wegweiser für die Menschen zu machen und ihn vor Verfälschung zu schützen (vergleiche Sûra 4:82; 15:9; 17:9; 41:41-44; 42:7, 52-53).
Ein Beweis für Gottes Bewahren besteht darin, dass der Qurân die einzige Schrift in der Geschichte der Menschheit ist, die in ihrer vollständigen und ursprünglichen Fassung erhalten ist, ohne die geringste Veränderung. Die Geschichte der Aufzeichnung des Qurân, der Zusammenstellung seiner Sûren und der Bewahrung seines Wortlauts ist bar jeden Zweifels, und zwar nicht nur in den Köpfen der Muslime, sondern auch in den Köpfen ehrlicher und aufrichtiger Wissenschaftler. Dies ist eine historische Tatsache, die kein Gelehrter irgendeiner Religion – der sein Wissen und seine Lauterkeit achtet – jemals anzweifelte. Um genau zu sein, ist es Muhammads beständiges Wunder, dass die gesamte Menschheit, selbst wenn sie zusammenarbeiten würde, nicht einmal etwas hervorbringen könnte, das einer Qurân-Sûra ähnelt (Sûra 2:22-24; 11:13-14; 17:88-89).
16. Der wahre Muslim glaubt, dass ein Unterschied zwischen dem Qurân und den Überlieferungen Muhammads besteht. Der Qurân ist das Wort Gottes, wohingegen die Überlieferungen Muhammads die praktischen Interpretationen des Qurân sind. Die Funktion Muhammads bestand darin, den Qurân so zu übermitteln, wie er ihn empfing, ihn zu interpretieren und richtig zu praktizieren. Seine Interpretationen und Praktiken sind als Überlieferungen Muhammads bekannt. Sie werden als zweite Quelle des Islâm betrachtet.
Anmerkungen
In dieser Erörterung der grundlegenden Glaubensartikel im Islâm sind wir bewusst von der traditionellen Betrachtung dieses Themas abgewichen. Wir haben sie nicht auf fünf oder sechs Artikel beschränkt. Stattdessen haben wir versucht, so viele Artikel wie möglich einzubeziehen. Allerdings sollte an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass alle oben erwähnten Glaubensartikel auf den Lehren des Qurân und den Überlieferungen Muhammads basieren beziehungsweise davon abgeleitet wurden! Es hätten noch weitere Qurân-Verse und zahlreiche Überlieferungen angeführt werden können, um die Grundlage dieser Glaubensartikel zu zeigen. Auf Grund des begrenzten Platzes wurde hierauf jedoch verzichtet. Der Qurân und die Überlieferungen Muhammads stellen indes verfügbare Referenzen für jegliche detaillierte Studie dar.
Die Verwendung westlicher Termini und Fachbegriffe wie Prädestination, Fatalismus, Willensfreiheit usw. wurde auf ein Minimum beschränkt. Dies wurde bewusst getan, um Verwirrung und Detailfragen zu vermeiden. Die meisten unter nicht Arabisch sprechenden Menschen verwendeten religiösen Fachbegriffe führen zu Fehleinschätzungen, wenn sie auf den Islâm bezogen werden, und vermitteln einen falschen Eindruck. Es wäre keineswegs zweckdienlich, wenn fremde religiöse Begriffe übernommen und auf den Islâm bezogen würden. Würden wir hier fremde religiöse Begriffe verwenden, so müssten wir viele Bedingungen und Kommentare ergänzen, um die islâmische Perspektive zu verdeutlichen. Dies hätte außerdem wesentlich mehr Platz erfordert, den wir unter diesen Umständen unmöglich bieten können. Deshalb haben wir versucht, die Dinge in gängiger einfacher Sprache darzulegen.