TOLERANZ UND NACHSICHT IM ISLAM
Verfasser:
Dr. Abdurrahman ibn Abdulkarim Al-Sheha
Aus dem Arabischen übertragen
Souheil Thabti
Islamische Korrektur
Muhamed Seyfudin Ciftci
Überarbeitung von:
A. Ateia & Om Iman
Dr. Ghembaza Moulay Mohamed
TOLERANZ UND
NACHSICHT IM ISLAM
This book has been conceived, prepared and designed by the
Usool International Centre. All photos used in the book belong to
the Usool Centre. The Centre hereby permits all Sunni Muslims
to reprint and publish the book in any method and format on
condition that 1) acknowledgement of the Usool Centre is clearly
stated on all editions; and 2) no alteration or amendment of the
text is introduced without reference to the Usool Centre. In the
case of reprinting this book, the Centre strongly recommends
maintaining high quality.
+966 11 445 4900
+966 11 497 0126
P.O.BOX 29465 Riyadh 11457
osoul@rabwah.sa
www.osoulcenter.com
Im Namen Allahs
des Allerbanners, des Barmherzigen
Zu den Faktoren die geholfen haben, den Islam zu verbreiten und ihm
Anerkennung und Akzeptanz bei den Nichtmuslimen zu verschaffen,
gehören, dass er leicht zu verstehen ist, dass seine Lehre einfach ist
und seine Toleranz in den Beziehungen; und dass er der natürlichen
Veranlagung, mit der Gott den Menschen erschaffen hat, nicht widerspricht
und keinen Gegensatz zu ihr bildet; und sein klarer und deutlicher Ruf,
der natürlichen Veranlagung zu folgen und ihr nicht zuwider zu handeln.
Wie es Allah, Hocherhabene, im Qur´an deutlich erklärt:
(So richte dein Gesicht aufrichtig zur Religion hin als Anhänger des
rechten Glaubens, - (gemäß) der natürlichen Anlage Allahs, in der
Er die Menschen er schaffen hat. Keine Abänderung gibt es für die
Schöpfung Allahs. Das ist die richtige Religion. Aber die meisten
Menschen wissen nicht.) (Qur´an 30:30)
Vielleicht lässt sich das mit einem Beispiel verdeutlichen: und zwar
dem natürlichen Instinkt der Sexualität. Der Islam sieht ihn nicht als
schmutzig an und hat ihn nicht verboten, im Gegenteil er hat befohlen,
ihn zu realisieren, wie Allah, der Hocherhabene, sagt:
(Und verheiratet die noch ledigen (Männer und Frauen) unter euch
und die Rechtschaffenen von euren Sklaven und euren Sklavinnen.
Wenn sie arm sind, wird Allah sie durch Seine Huld reich machen.
Allah ist Allumfassend und Allwissend.) (Qur´an 24:32)
Und der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen
schenken) hat ermutigt, die Initiative zu ergreifen und zu heiraten, um
dieses sexuelle Bedürfnis zu befriedigen, indem er sagte:
„O ihr Scharen der Jugendlichen, wer sich von euch die Führung
einer Familie leisten kann, der soll heiraten, denn das hilft, den
Blick zu senken und die Scham zu hüten. Und wer dies nicht kann,
der soll fasten. Dann ist dies für ihn ein Schutz.“
Aber er hat es nicht ohne Bedingungen und Begrenzungen erlaubt.
Vielmehr hat er Regeln aufgestellt und die richtige Art und Weise
TOLERANZ UND NACHSICHT IM ISLAM 8
gezeigt, um dies zu erreichen und den Instinkt zu befriedigen. Dafür
hat er das Heiraten als richtigen Weg bestimmt, so dass mit der Heirat
die Ruhe erzielt wird, nach der sich jeder Mensch sehnt. Und infolge
dessen wächst diese Gnade, durch die das Zusammenleben in einer Ehe
erfolgreich wird und Nachkommen gezeugt werden; und das auf eine
legale Art und durch einen heiligen Bund, wie Allah, der Hocherhabene,
es im Qur´an erklärt:
(Und es gehört zu Seinen Zeichen, daß Er euch aus euch selbst
Gattinnen erschaffen hat, damit ihr bei ihnen Ruhe findet; und Er
hat Zuneigung und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Darin
sind wahrlich Zeichen für Leute, die nachdenken.) (Qur´an 30:21)
Und er hat jede andere Art außer dieser für verboten erklärt, wegen
dem, was daraus resultiert, wie die Verbreitung von Krankheiten, das
Abbrechen von Familienverbindungen, außereheliche Kinder mit
unruhigen Seelen und voller Hass auf ihre Gesellschaft. So sagt Allah,
der Hocherhabene, im Qur´an:
(Und nähert euch nicht der Unzucht. Gewiß, sie ist etwas
Abscheuliches - und wie böse ist der Weg.) (Qur´an 17:32)
Es muss dabei auch erwähnt werden, dass er die Ehe nicht für ewig
bestimmt hat, für den Fall, dass einer von beiden oder beide damit
nicht zurecht kommen. Dann hat er den beiden die Trennung erlaubt,
aber durch angemessene Anordnungen, die die Rechte von beiden
sichern und auf ihre Gefühle achtend, weil der Islam den Aufbau einer
glücklichen Familie zum Ziel hat, die selbst dann den Grundstein für die
erfolgreiche Gesellschaft bildet, wodurch der Einzelne sein weltliches
und religiöses Leben in Freiheit und Ruhe genießen kann, und so wird er
zu einem Menschen, der produktiv und förderlich ist für die Gesellschaft.
Und so ist es das gleiche Prinzip auch bei anderen veranlagten Dingen
beim Menschen. So hat der Islam die Dinge einfach gemacht und der
menschlichen Seele nicht mehr aufgeladen, als sie tragen kann.
Als dem Islam der Terrorismus immer häufiger vorgeworfen wurde und
ihm Eigenschaften nachgesagt wurden, die überhaupt nichts mit ihm zu tun
9 DR.ABDUR RAHMÁN AL-SHEHA
haben, sondern einfach nur dafür bestimmt sind, vor ihm abzuschrecken,
vielleicht aus Angst vor der steigenden Zahl der Konvertierten, und als
immer mehr Vorwürfe und Zweifel hörbar wurden, die keinen Grund und
Boden haben, sondern lediglich Interpretationen eigener, persönlicher
Anschauungen, die islam- und muslimfeindlich sind, bat mich der Scheikh
Muhamed Seyfudin Abu Anas, Vorsitzender des Vereins „Einladung zum
Paradies e.V.“ in Deutschland, ein kurz gefasstes Buch zu schreiben, das
die Toleranz und die Nachsicht des Islam und im Islam darstellt. Es ist
ihm, nach Allah, dem Hocherhabenen, zu verdanken, dass dieses Buch
veröffentlicht wird.
Jedoch muss ich sagen, dass mein Erstaunen sehr groß war, als ich von
dieser Entwicklung der öffentlichen Meinung, speziell in Deutschland,
erfahren habe, weil ich, offen gesagt, die Deutschen als ein freundliches
Volk kennengelernt habe und je näher ich sie kennenlernte, desto
beeindruckter war ich von ihrer Freundlichkeit. Zu dieser Ansicht bin
ich aufgrund meiner Erfahrungen mit jenen Deutschen gelangt, die aus
geschäftlichen oder privaten Gründen in mein Land gekommen sind.
Und da das Volk so freundlich ist, habe ich automatisch den Schluss
gezogen, dass seine Regierung ebenfalls freundlich sein muss. Denn
ein freundliches Volk wählt auch nur eine freundliche Regierung. Auch
hat sich dies mir nach den zahlreichen gemäßigten Stellungnahmen der
deutschen Regierung zu vielen Geschehnissen auf internationaler Ebene
bestätigt. An dieser Stelle möchte ich dem deutschen Volk gratulieren für
diese vernünftige und freundliche Regierung. So gratuliere ich auch der
deutschen Regierung für dieses wunderbare Volk. Ich spreche für meine
eigene Person und kann sagen, dass ich Deutschland liebe und ihm Aufstieg
und Fortschritt wünsche. Und ich möchte Deutschland beruhigen, dass
hinter dem wahren Islam nur Liebe, Zuneigung und Frieden steckt, und
das ist, was sie in diesem Buch erkennen werden. Ich wünsche mir von
der Regierung und vom Volk, dass sie gründlich darüber nachdenken, den
wahren Islam zu akzeptieren, ihn zu fördern sowie den Menschen die
Möglichkeit geben, den Lebensweg zu gehen, den sie möchten, solange
TOLERANZ UND NACHSICHT IM ISLAM 10
alles friedlich und im Rahmen der deutschen Verfassung verläuft. Das ist
meine Hoffnung. Denn durch das Akzeptieren des Islam werden sie ihre
Gesellschaft bereichern und viele Konflikte lösen können. Konflikte, die
aufgrund der modernen Zivilisation und der Verbreitung der Verderbnis,
des Ungehorsams, der Zerstörung von Familien etc., entstanden sind.
Und nicht nur das; sie werden auch ihre Wirtschaft verbessern, wenn sie
das islamische Wirtschaftssystem annehmen, das keine Finanzkrise oder
wirtschaftlich zerstörende Schwankungen, wie wir sie heutzutage erleben,
kennt. Es reicht als Beweis, dass viele nicht-islamische Nationen vorhaben,
das islamische Wirtschaftssystem zu übernehmen. Auch aus politischer
Sicht werden sie 1,57 Mrd. Muslime, die ein Viertel der Weltbevölkerung
ausmachen, für sich gewinnen. Sie werden dadurch besondere und
nützliche Bündnisse mit nicht weniger als 90% der islamischen Nationen
schließen können und zudem über eine stabile Sicherheit inner- und
außerhalb des Landes verfügen. Wir leugnen natürlich nicht, dass es
einige Muslime gibt, die durch ihre Handlungen dem Islam Böses angetan
haben, sei es nun absichtlich oder unbeabsichtigt. Jedoch ist es ungerecht,
dem Islam die Fehler und falschen Handlungen einiger seiner Anhänger,
die nicht dem wahren Islam folgen, anzuhängen.
Ich wiederhole es noch einmal, dass ich Deutschland und sein Volk liebe.
Und der Beweis für meine Liebe ist meine schnelle Reaktion auf die Bitte
des Scheikh Muhamed Seyfudin Ciftci. Ich gratuliere Deutschland dafür,
einen solchen Scheikh zu haben, der eine ausgeglichene Persönlichkeit
in seiner Dawa (Einladung zum Islam) ist. Zudem ist er klar und ehrlich
in seiner Orientierung und seinen Zielen.
Euer Dr. Abdurrahman ibn Abdulkarim Al-Sheha
EINFÜHRUNG
Der Islam ist die Religion, mit der Allah alle Propheten, seit Adam, (sas),
entsandt hat. Der Islam ist die Religion, die Allah für beide Welten, der
Menschen und der Djinn (Geister), auserwählt hat bis zum Tag der
Auferstehung. So sagt Allah, der Hocherhabene:
(Gewiss, die Religion ist bei Allah der Islam.) (Qur´an 3:19)
Der Islam lädt dazu ein, Allah alleine anzubeten und Ihm allein die
aufrichtige ‘Ibada (religiöse Anbetungshandlungen) ohne jegliche
Beigesellung anderer entgegenzubringen. Diese Einladung ist die aller
Gesandten und Propheten.
So sagt Allah, der Hocherhabene:
(Er hat euch von der Religion festgelegt, was Er Nuh anbefahl und
was Wir dir (als Offenbarung) eingegeben haben und was Wir
Ibrahim, Musa und `Isa anbefahlen: Haltet die (Vorschriften der)
Religion ein und spaltet euch nicht darin (in Gruppen).) (Qur´an 42:13)
Die Propheten vor Muhammad (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm
Wohlergehen schenken) wurden nur zu ihrer Stadt, ihrem Dorf oder ihrem
Stamm und für eine bestimmte Zeit entsandt. Wenn nun der entsandte
Prophet starb und nach einer langen Zeit die Entgleisungen von seinen
Gottesgesetzen (Scharia) durch Vielgötterei und die Entfernung von der
Umsetzung der Scharia und Ungerechtigkeit herrschte, entsandte Allah
einen anderen Propheten, um die alte Scharia und die Empfehlung zur
Anbetung Gottes alleine, ohne Ihm etwas beizugesellen, zu erneuern. So
sagt Allah, der Hocherhabene:
(Und Wir haben ja bereits in jeder Gemeinschaft einen Gesandten
erweckt: „Dient Allah und meidet die falschen Götter.) (Qur´an 16:36)
Und so war schließlich der letzte dieser Propheten und Gesandten
Muhammad (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen
TOLERANZ UND NACHSICHT IM ISLAM 12
schenken). Allah hat ihn entsandt, damit er das Siegel aller Propheten
und Gesandten wird, und damit seine Scharia die letzte aller
vorangegangenen Scharia’s wird. Auch damit seine Scharia für die
gesamte Welt gilt. Für die Menschen und die Djinn, für die Weißen
und Schwarzen, für die Araber und Nichtaraber, für alle gleich. So sagt
Allah, der Hocherhabene:
(Und Wir haben dich für die Menschen allesamt nur als Frohboten
und Warner gesandt.) (Qur´an 34:28)
Deshalb war es wichtig und unerlässlich, dass diese Botschaft und diese
Scharia bestimmte Eigenschaften aufweist, die vorige Scharia’s nicht
besaßen. Sie muss fähig sein, sich den gesellschaftlichen Fortschritten
anzupassen. Sie muss ebenfalls alle Menschen ansprechen, unabhängig
von ihrer Herkunft und Abstammung. Deswegen ist eine der Eigenschaften
dieser Religion, dass sie universell ist, und dass eine Barmherzigkeit für
die Menschheit darin liegt. So sagt Allah, Erhaben ist Er:
(Und Wir haben dich nur als Barmherzigkeit für die Weltenbewohner
gesandt.) (Qur´an 21:107)
Sie muss auch hinsichtlich der Bestimmungen vollkommen und
allumfassend sein, um das Leben des Einzelnen, der Gemeinschaft
und die Beziehungen mit anderen Gemeinschaften zu regeln, um
so ihre Stetigkeit und ihren Fortbestand zu sichern, die Allah für sie
vorgesehen hat und damit diese Scharia auch für alle Zeiten, Epochen
und Orte, bis zum Jüngsten Tag, gültig bleiben kann. So sagt Allah, der
Hocherhabene:
(...Heute habe Ich euch eure Religion vervollkommnet und Meine
Gunst an euch vollendet, und Ich bin mit dem Islam als Religion
für euch zufrieden.) (Qur´an 5:3)
Und da die Einfachheit, Toleranz und Nachsicht wichtige Punkte sind,
damit der Mensch sich zu einer Scharia bekennt, gehören diese auch zu
den besonders betonten Eigenschaften der islamischen Scharia. Diese
Toleranz und Nachsicht zeigt sich in der Einfachheit ihrer Regeln und in
der Leichtigkeit ihrer religiösen Riten. Ein weiteres Charakteristikum
13 DR.ABDUR RAHMÁN AL-SHEHA
ist die Weite und Einfachheit, die diese Summe von Regeln mit sich
bringen, damit es allen, zu jeder Zeit und an jedem Ort möglich ist, sie
im Rahmen ihrer Möglichkeiten umzusetzen und nach ihnen zu leben,
so, wie Allah und Sein Prophet es befohlen haben. Dabei stützt sich die
Art und Weise auf den Vers, in dem Allah, der Hocherhabene, sagt:
(Allah erlegt keiner Seele mehr auf, als sie zu leisten vermag.) (Qur´an 2:286)
Und der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen
schenken) sagte:
„Lasset meine Befragung sein, solange ich eure Handlungen
billige; denn diejenigen, die vor euch waren, gingen durch ihre
(überflüssigen) Fragen und Meinungsverschiedenheiten mit ihren
Propheten zugrunde. Wenn ich euch etwas verbiete, dann meidet es
und von dem, was ich euch aufgetragen habe, führt aus, so viel ihr
vermöget.“ (Buchari)
Die Toleranz und Nachsicht im Islam sind eine unerlässliche Säule, auf
der sich die islamische Scharia stützt. Angefangen bei der bedeutendsten
Sache der Religion, nämlich dem Glaubensbekenntnis, bis zu den
kleinsten Angelegenheiten. Ohne Eigensinn und ohne eine Strenge, die
das Erlaubte verbietet und ohne eine Leichtsinnigkeit, die das Verbotene
erlaubt. Denn diese Scharia wurde für die Menschen offenbart, die
Mängel haben, Gefühlen und Emotionen ausgesetzt sind und über eine
begrenzte Kraft verfügen. So nimmt die islamische Scharia Rücksicht
auf diese Emotionen, Gefühle und Kräfte, weil es die Religion der Fitra
(natürliche Veranlagung) ist. Sie greift diese Fitra nicht an, sondern
passt sich dieser an und begleitet sie. Sie bietet allen die Möglichkeit,
die religiösen Riten zu befolgen, je nach Fähigkeit und Situation des
Einzelnen. So sagt Allah, der Hocherhabene:
(… und euch in der Religion keine Bedrängnis auferlegt.) (Qur´an 22:78).
Die Regeln der islamischen Scharia sind erfüllt mit Nachsicht und
Toleranz und geprägt von Einfachheit sowie der Aufhebung von
Bedrängnis und Vermeidung von Schwierigkeiten für ihre Anhänger.
Deswegen ist sie beliebt bei allen Individuen der islamischen
TOLERANZ UND NACHSICHT IM ISLAM 14
Gesellschaft, trotz der Vielfältigkeit ihrer Ebenen und der Unterschiede
ihrer Gedanken. Sie genießen das Praktizieren dieser Scharia. Die
gerechten Nicht-Muslime bestätigen dies. Denn die islamische Scharia
berücksichtigt den Reichen und Armen, den Gesunden und den Kranken,
den Großen und den Kleinen, Männer wie Frauen. Sie berücksichtigt
auch den Herrscher und das Volk und nimmt Rücksicht auf den Ort und
die Zeit. Von Beginn an kannte die gesamte Menschheit keine andere
Religion, die solche umfassenden Prinzipien besitzt und die angepasst
ist an die Natur des Menschen, den Allah schwach erschuf. So sagt
Allah, der Hocherhabene:
(Allah will es euch leicht machen, denn der Mensch ist (ja) schwach
erschaffen.) (Qur´an 4:28)
Die Toleranz und Nachsicht des Islam und seine Einfachheit in der
Aufhebung der Bedrängnis und der Strenge, ist nicht nur auf seine
Anhänger beschränkt. So hatten die Anhänger anderer Religionen, die
der Bedrängnis und der Härte ausgesetzt waren, durch die Erscheinung
des Islam viel Gutes und Erleichterung erfahren. Der Islam entlastete sie
in vielerlei Hinsicht. So sagt Allah, der Hocherhabene:
(die dem Gesandten, dem schriftunkundigen Propheten, folgen, den
sie bei sich in der Thora und im Evangelium aufgeschrieben finden.
Er gebietet ihnen das Rechte und verbietet ihnen das Verwerfliche,
er erlaubt ihnen die guten Dinge und verbietet ihnen die schlechten,
und er nimmt ihnen ihre Bürde und die Fesseln ab, die auf ihnen
lagen. Diejenigen nun, die an ihn glauben, ihm beistehen, ihm helfen
und dem Licht, das mit ihm herab gesandt worden ist, folgen, das
sind diejenigen, denen es wohl ergeht.) (Qur´an 7:157)
Zur Toleranz und Nachsicht des Islam gehört die Legitimation des sog.
Ijtihad (Bemühen), den der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und
ihm Wohlergehen schenken) konkludent erlaubt hat, als er Mu’adh zum
Jemen schickte. Er fragte ihn:
„Wie urteilst du, wenn du einer Klage begegnest?“ Er sagte: „Ich
urteile nach dem Qur’an.“ Er fragte ihn: „Was ist, wenn du darin
15 DR.ABDUR RAHMÁN AL-SHEHA
nichts findest?“ Er sagte: „Dann urteile ich nach der Sunna des
Propheten (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen
schenken).“ Er fragte ihn weiterhin: „Und wenn du darin nichts
findest?“ Er sagte: „Ich bemühe mich in meiner Meinung, bis ich zu
einer Lösung komme.“ Er schlug auf seine Brust und sagte: „Alles
Lob gebührt Allah, Der den Gesandten des Gesandten Gottes zu dem,
was Allah und Seinen Propheten zufrieden stellen, verholfen hat.“
Daher ist diese Religion fähig, sich zu entwickeln, gültig und passend für
jede Zeit und jeden Ort. Denn der Islam brachte allgemeine Prinzipien
und Fundamente, feste, umfassende und vollständige Grundsätze, die
sich nicht mit der Zeit und dem Ort ändern. Zu diesen Fundamenten
gehören das Bekenntnis und die religiösen Riten, wie der Glaube
(Iman), die Gebete (ihre Anzahl und ihre Zeiten), die Almosen - soziale
Pflichtabgabe - (ihre Beträge und wann sie zu geben sind), das Fasten
und seine Zeit, die Pilgerfahrt mit ihrer Verrichtungsweise und ihrer Zeit
und die Hudud (Bestrafungen), etc.
Ganz gleich, welche Dinge sich mit der Zeit ergeben und neu erscheinen,
sie werden dem Qur’an vorgestellt. Wenn darin eine Regelung für diese
Sache gefunden wird, dann folgt man dieser und lässt alles andere
beiseite. Findet man nichts darin, so geht man zur Sunna des Propheten
(Möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken)
über und sucht dort nach Regelungen in den über ihn authentisch und
zuverlässig überlieferten Aussagen. Findet man hier etwas, so nimmt
man dies, andernfalls geht man zum den Ijtihad über. Da haben die
frommen und aufrichtigen Gelehrten zu forschen und zu überprüfen,
um zu einem Ergebnis zu kommen, welches das Interesse und das Wohl
der Allgemeinheit verwirklicht sowie den Belangen ihrer Zeitepoche
und ihrer gesellschaftlichen Situation entspricht. Das erfolgt durch
das Überprüfen dessen, was der Qur’an und die Sunna wahrscheinlich
zulassen. Diese neuen Dinge werden anhand der schariakonformen,
allgemeinen Grundsätze, die aus dem Qur’an und der Sunna entnommen
wurden, überprüft. Folgende Grundsätze als Beispiel: (Grundsätzliche
TOLERANZ UND NACHSICHT IM ISLAM 16
Legitimation in allen Angelegenheiten), (Wahrung der Interessen),
(Einfachheit und das Meiden von Bedrängnis), (Beseitigung des
Nachteils), (Not rechtfertigt das Verbotene), (Notlagen werden einzeln
beurteilt und abgeschätzt), (das Beseitigen des Nachteils hat den Vorrang
gegenüber der Herbeiführung von Nutzen), (Ausführung der weniger
nachteiligen Handlung), (Nachteil wird nicht mit Nachteil aufgehoben),
(das Ertragen des persönlichen Nachteils, um den allgemeinen Nachteil
abzuwehren), etc.
Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass der Ijtihad nicht so verstanden
werden darf, dass man der eigenen Laune folgen und nach eigenen
Vorstellungen urteilen soll. Vielmehr geht es um das Erreichen von
Ergebnissen, die den Menschen Gutes und Nützliches bringen, ohne
dabei den religiösen Texten zu widersprechen. Das ist so, damit der
Islam jedem Zeitalter angepasst ist und den Belangen jeder Gesellschaft
in jeder Epoche angeglichen wird. Diese Worte sind nicht einfach so
daher gesagt. Denn wer die qur‘anischen Texte und die Aussprüche
des Propheten (Möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen
schenken) verfolgt, sieht, dass der Islam zur Toleranz, Nachsicht und
Einfachheit einlädt und dazu anhält.
DER ISLAM UND DER DISKURS DER
TOLERANZ UND NACHSICHT:
Über die Toleranz und Nachsicht des Islam zu sprechen ist nichts
spezielles oder partielles, sondern etwas, was den gesamten Islam
umfasst und anspricht, weil die Toleranz und Nachsicht in jeder Facette
des Islam integriert ist. Wie kann es auch anders sein, wo doch der Prophet
(möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) sagte:
„Die beste Art und Weise eures Glaubens ist die einfachste.“
Auch sagte er (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen
schenken):
„Die beliebte Art der Religion bei Allah ist die des rechten Glaubens
und der Gnade.“ (Buchari)
Der Islam ist somit ein vollkommener und umfassender Diskurs. Der
Islam ist die Religion der Mitte, wie Allah, der Hocherhabene, sagt:
(Und so haben Wir euch zu einer Gemeinschaft der Mitte gemacht,
damit ihr Zeugen über die (anderen) Menschen seiet und damit der
Gesandte über euch Zeuge sei.) (Qur´an 2:143)
Der Islam ist eine Religion der Toleranz und Nachsicht im Bereich
der Politik und der auswärtigen Beziehungen, so sagt Allah, der
Hocherhabene:
(Allah verbietet euch nicht, gegenüber denjenigen, die nicht gegen
euch der Religion wegen gekämpft und euch nicht aus euren
Wohnstätten vertrieben haben, gütig zu sein und sie gerecht zu
behandeln. Gewiss, Allah liebt die Gerechten.) (Qur´an 60:80)
Auch ist er eine Religion der Toleranz und Nachsicht im Bereich der
Gesellschaft, so sagt Allah, der Hocherhabene:
(O ihr Menschen, Wir haben euch ja von einem männlichen
und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben
TOLERANZ UND NACHSICHT IM ISLAM 18
euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander
kennenlernt. Gewiss, der Geehrteste von euch bei Allah ist der
Gottesfürchtigste von euch. Gewiss, Allah ist Allwissend und
Allkundig.) (Qur´an 94:13)
Auch im Bereich des Benehmens und des Charakters ist der
Islam eine Religion der Toleranz und Nachsicht, so sagt Allah, der
Hocherhabene:
(Nimm den Überschuss, gebiete das allgemein Gute und wende
dich von den Toren ab!) (Qur´an 7:199)
Im Bereich der religiösen Verrichtungen zeigt sich diese Toleranz
ebenfalls. So sagt Allah, der Hocherhabene: (Diejenigen aber, die
glauben und rechtschaffene Werke tun – Wir erlegen keiner
Seele mehr auf, als sie zu leisten vermag –, jene sind Insassen des
(Paradies)gartens. Ewig werden sie darin bleiben.) (Qur´an 7:42)
Und so verhält es sich auch im Bereich der Wirtschaft. So sagt Allah,
der Hocherhabene:
(Diejenigen, die Zins verschlingen, werden nicht anders
aufstehen als jemand, den der Satan durch Wahnsinn hin und
her schlägt. Dies (wird sein), weil sie sagten: „Verkaufen ist das
gleiche wie Zinsnehmen.“ Doch hat Allah Verkaufen erlaubt
und Zinsnehmen verboten. Zu wem nun eine Ermahnung von
seinem Herrn kommt, und der dann aufhört, dem soll gehören,
was vergangen ist, und seine Angelegenheit steht bei Allah. Wer
aber rückfällig wird, jene sind Insassen des (Höllen)feuers. Ewig
werden sie darin bleiben.) (Qur´an 2:275)
Der Islam ist auch eine Religion der Toleranz und Nachsicht im
Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen. So sagt Allah, der
Hocherhabene:
(Die in Freude und Leid ausgeben und ihren Grimm zurückhalten
und den Menschen verzeihen. Und Allah liebt die Gutes Tuenden.)
(Qur´an 3:134)
19 DR.ABDUR RAHMÁN AL-SHEHA
So ist es ebenfalls im Bereich der Erziehung und Bildung. So sagte
der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen
schenken):
„Vereinfacht und erschwert nicht, und verkündet die gute
Nachricht und schreckt nicht ab.“ (ibn Hibban)
Die islamischen religiösen Texte waren ein Anlass, den Diskurs der
Toleranz, der Nachsicht und der Einfachheit durch die Nachlegung seiner
praktischen Umsetzung in der islamischen Gesellschaft zu verankern:
Auf der Ebene des Einzelnen, durch den Ausspruch des Propheten (möge
Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken):
„Seid nachsichtig, so ist Allah mit euch nachsichtig.“ (von Ahmad
überliefert)
und auf der Ebene der Gemeinschaft, anhand des Ausspruchs des
Propheten (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen
schenken):
„Allah liebt die Güte in jeder Angelegenheit.“ (Buchari)
Der Prophet hat sogar für denjenigen, der gütig mit seiner Umma
umgeht und sie milde behandelt und sie dabei mit Einfachheit führt, ein
Bittgebet gesprochen, in dem es heißt:
„O Allah, wer die Führung dieser Umma übernimmt und es ihr
schwer macht, erschwere es ihm, und wer die Führung dieser Umma
übernimmt und gütig, milde und nachsichtig mit ihr umgeht, geh
gütig, milde und nachsichtig mit ihm um.“ (von Muslim überliefert).
Der Islam hat die Toleranz und Nachsicht zu den Dingen zählen
lassen, die zum Paradies führen und von der Hölle abwenden, so sagte
der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen
schenken):
„Wer unkompliziert, sanft und nah ist, den hält Allah von der Hölle fern.“
Aber man muss wissen, dass Toleranz, Nachsicht und Einfachheit speziell
für die religiösen Verrichtungen gelten und nicht für die Lehren der
Scharia und der Religion. So kann nichts Verbotenes für erlaubt erklärt
TOLERANZ UND NACHSICHT IM ISLAM 20
werden und nichts Erlaubtes für verboten. Auch darf das Praktizieren
seiner Richtlinien und Regeln nicht vernachlässigt werden oder etwa
den islamischen Auffassungen und allgemeinen Sitten schaden. Es sind
die Toleranz, die Nachsicht und die Einfachheit, die fern sind von Härte
und Schwere und auch fern von Frevel und Sünde. Geregelt ist dies in
dem Ausspruch des Propheten, den ’Aischa (möge Allah Wohlgefallen
an ihr haben) die Ehefrau des Propheten berichtete:
„Wenn dem Propheten (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm
Wohlergehen schenken) zwei Dinge angeboten wurden, so wählte er
die einfachere Sache, solange es sich nicht um eine Sünde handelte.
War es eine Sünde, dann war er am entferntesten davon.“
Natürlich sind die Ausnahmen davon ausgeschlossen, denn diese haben
ihre speziellen Regelungen.
Im Folgenden werden wir weitere Facetten der Toleranz und Nachsicht
behandeln:
DIE TOLERANZ UND NACHSICHT IM BEREICH DER AQIDA:
Die Aqida (Gesamtheit der zu verinnerlichenden Inhalte des Islam)
im Islam ist das Fundament und die Grundlage, worauf die Religion
aufbaut, bei der es keine Kompromisse oder Verhandlungen gibt. Denn
ohne Aqida gibt es auch keine Religion.
Deshalb sagt uns Allah, der Hocherhabene, im Qur’an:
(Allah vergibt gewiss nicht, dass man Ihm (etwas) beigesellt. Doch
was außer diesem ist, vergibt Er, wem Er will.) (Qur´an 4:84)
Zu den Seiten der Toleranz und Nachsicht des Islam im Bereich der
Aqida gehören:
Die Aqida ist klar und nicht etwa undeutlich oder verworren. Es ist
einfach, so dass der Unwissende es vor dem Wissenden versteht und
der kleine vor dem großen. Daher ist es nicht notwendig, zu einer
bestimmten Gruppe zu gehören, um die Aqida zu kennen und zu
verstehen. Diese Aqida unterschätzt nicht den menschlichen Verstand,
sodass es ihn etwa dazu veranlassen würde, Steine, Bäume oder Tiere
21 DR.ABDUR RAHMÁN AL-SHEHA
anzubeten. Vielmehr ruft es zum Glauben an den einen einzigen Gott
auf; Ihn alleine, ohne jegliches Beigesellen und ohne jegliche Vermittler
anzubeten. Die Aqida ist so einfach, dass es sogar der unwissende Beduine
in der Wüste verstanden hat, als er gefragt wurde: „Wie hast du deinen
Gott erkannt?“ Da sagte er instinktiv: „Der Dung deutet auf das Vieh und
die Fußspuren auf den Gehenden. Deutet etwa die Nacht und der Tag, die
Erde und der Himmel nicht auf den Allmächtigen, den Allwissenden?“
Auch wusste es die Magd mit ihren Schafen. Mu’awiya ibn al-Hakam
al-Sulami sagt: „Ich hatte eine Zahl von Schafen, die meine Magd hütet.
Eines Tages entdeckte ich, dass ein Wolf eines der Schafe gefressen hatte.
Aus meiner Wut heraus versetzte ich ihr einen schweren Schlag, den ich
danach bereute und es tat mir sehr leid. Daraufhin ging ich zum Propheten
(möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) und
fragte: „Soll ich sie freilassen?“ Da sagte der Prophet:
„Bring sie zu mir!“ Als sie kam, fragte sie der Prophet: „Wo ist
Allah?“ Sie antwortete: „Im Himmel.“ Da fragte sie der Prophet
weiter: „Wer bin ich?“ Sie sagte: „Du bist der Gesandte Gottes.“.
Daraufhin sagte der Prophet zu Mu’awiya: „Lass sie frei! Sie ist
eine Gläubige.“
Auch gehört zur Toleranz und Nachsicht des Islam im Bereich
der Aqida, dass er seinen Anhängern auferlegt hat, an alle
vorangegangenen Gesandten und Bücher, die offenbart wurden, zu
glauben. So sagt Allah, der Hocherhabene:
(Der Gesandte (Allahs) glaubt an das, was zu ihm von seinem
Herrn (als Offenbarung) herab gesandt worden ist, und ebenso
die Gläubigen; alle glauben an Allah, Seine Engel, Seine Bücher
und Seine Gesandten – Wir machen keinen Unterschied bei
jemandem von Seinen Gesandten. Und sie sagen: „Wir hören
und gehorchen. (Gewähre uns) Deine Vergebung, unser Herr!
Und zu Dir ist der Ausgang.) (Qur´an 2:285)
Zur Toleranz und Nachsicht des Islam im Bereich der Aqida gehört,
dass niemand mit Gewalt gezwungen oder genötigt wird, ohne
TOLERANZ UND NACHSICHT IM ISLAM 22
eigenen Willen oder Überzeugung, den Islam anzunehmen. So sagt
Allah, der Hocherhabene:
(Es gibt keinen Zwang im Glauben. (Der Weg der) Besonnenheit
ist nunmehr klar unterschieden von (dem der) Verirrung. Wer
also falsche Götter verleugnet, jedoch an Allah glaubt, der hält
sich an der festesten Handhabe, bei der es kein Zerreißen gibt.
Und Allah ist Allhörend und Allwissend.) (Qur`an 2:256)
Denn in den islamischen Quellen steht, dass die Unstimmigkeiten
über die Religionen zwischen den Menschen Tatsachen sind, die dem
Willen Allahs entsprechen. Deshalb gehört es nicht zu den Regeln
des Islam, die Menschen dazu zu zwingen, Muslime zu werden. So
sagt Allah, der Hocherhabene:
(Und wenn dein Herr wollte, würden fürwahr alle auf der Erde
zusammen gläubig werden. Willst du etwa die Menschen dazu
zwingen, gläubig zu werden?) (Qur`an 10:99)
So steht es demjenigen, dem der Islam erklärt wurde, frei zu
entscheiden, ihn anzunehmen oder abzulehnen. So sagt Allah, der
Hocherhabene:
(Und sag: (Es ist) die Wahrheit von eurem Herrn. Wer nun
will, der soll glauben, und wer will, der soll ungläubig sein.
Gewiss, Wir haben den Ungerechten ein Feuer bereitet, dessen
Zeltdecke sie umfangen hält. Und wenn sie um Hilfe rufen,
wird ihnen mit Wasser wie geschmolzenem Erz geholfen, das
die Gesichter versengt – ein schlimmes Getränk und ein böser
Rastplatz.) (Qur`an 18:29)
Zur Toleranz und Nachsicht des Islams gehört im Bereich der Aqida
auch, dass nach den sichtbaren Taten und Aussagen geurteilt wird
und nicht nach den verborgenen Absichten und Zielen. Deswegen
kann niemand nach seinen verborgenen Absichten zur Rechenschaft
gezogen werden, weil diese verborgenen Dinge eine Angelegenheit
zwischen dem Menschen und seinem Gott sind, über die kein
Mensch etwas wissen kann. Deshalb reagierte der Prophet streng,
23 DR.ABDUR RAHMÁN AL-SHEHA
wenn jemand über die Menschen gemäß ihren Absichten urteilte. So
wünschte sich einer der Gefährten, dass er den Islam nicht vor seiner
Tat angenommen hätte. Osama ibn Zaid (möge Allah Wohlgefallen
an ihm haben) sagte:
„Der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm
Wohlergehen schenken) entsandte uns in eine Brigade. Wir
wachten auf, und ich sah einen Mann. Er sagte: „La ilaha illa
Allah (Es gibt keinen Gott außer dem einen Gott)“, und ich habe
ihn erstochen. Dies lastete mir schwer auf dem Herzen und ich
ging zum Propheten (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm
Wohlergehen schenken) und berichtete ihm von dem Vorfall.
Er fragte: „Er hat „la ilaha illa Allah“ gesagt und du hast ihn
getötet?“ Ich sagte: „O Prophet, er hat es bloß aus Angst vor
dem Tod gesagt.“ Da fragte der Prophet: „Hast du in sein Herz
geschaut, damit du weißt, ob er es (aus Angst) sagte oder nicht?“
Und er wiederholte es so oft, bis ich mir wünschte, dass ich erst
an diesem Tag den Islam angenommen hätte.“
Die Beurteilung des Menschen vollzieht sich also nach dem Äußeren,
den Taten. So berichtet abu Sa’id al-Khudri: „Ali ibn abu Talib
sendete dem Propheten (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm
Wohlergehen schenken) aus dem Jemen Golderz in gegerbtem Leder.
Er sagte: „Er teilte es unter vier Leuten auf; ‘Uyainata ibn Hisn und
al-Aqra‘ ibn Habis und Zaid al-Khail und der vierte ist entweder
‘Alqama ibn ‘Ulatha oder ‘Amer bin at-Tufail. So sagte einer seiner
Gefährten: „Es wäre vorteilafter, uns dies zu geben anstatt ihnen. Als
der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen
schenken) dies mitbekommen hatte, fragte er:
„Vertraut ihr mir nicht? Der im Himmel vertraut mir. Mir
kommen die Mitteilungen des Himmels morgens und abends.“
Da stand ein Mann auf und sagte: „O Prophet, fürchte Allah.“
Da sagte der Prophet: „Wehe dir! Bin ich nicht derjenige, der
Allah mehr fürchtet als alle anderen Menschen?“ Der Mann
TOLERANZ UND NACHSICHT IM ISLAM 24
ging. Da fragte Khalid ibn al-Walid: „O Prophet, soll ich ihn
umbringen?“ Der Prophet antwortete: „Nein, vielleicht betet
er.“ Khalid fragte daraufhin: „Wie viele sind es, die mit ihrem
Mund etwas anderes sagen, als das, was sich in ihren Herzen
befindet?“ Da sagte der Prophet: „Es wurde mir nicht befohlen,
in die Herzen der Menschen zu schauen.“ Dann schaute er ihn
an und sagte: „Es wird unter meinen Nachkommen Menschen
geben, die den Qur’an rezitieren, wobei ihre Rezitation ihre
Zungen nicht übertritt, sie treten aus der Religion aus, wie ein
Pfeil aus seiner Beute.“
Zur Toleranz und Nachsicht des Islam im Bereich der Aqida gehört
auch, dass es nicht bedenklich ist, wenn der Muslim auf einige
seiner religiösen Gebote bzw. Pflichten verzichtet, um aus seiner
misslichen Lage, unter der er leidet, zu entkommen. So sagt Allah,
der Hocherhabene:
(Wer Allah verleugnet, nachdem er den Glauben (angenommen)
hatte – außer demjenigen, der gezwungen wird, während sein
Herz im Glauben Ruhe gefunden hat –, doch wer aber seine
Brust dem Unglauben auftut, über diejenigen kommt Zorn von
Allah, und für sie wird es gewaltige Strafe geben.) (Qur`an 16:106)
Und dies ist so, damit der Muslim nicht in seelische Bedrängnis gerät
infolge des Druckes, den er von seinen Widersachern erfährt. So
geschah es auch mit ‘Ammar ibn Yasir (möge Allah Wohlgefallen an
ihm haben), als ihn die Ungläubigen festhielten und ihn gequält und
gefoltert haben und nicht eher von ihm abgelassen haben, bis er den
Propheten (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen
schenken) beschimpfte und über ihre Götzen gut sprach. Erst dann
ließen sie ihn laufen. Als er zum Propheten (möge Allah ihn in Ehren
halten und ihm Wohlergehen schenken) ging, fragte ihn der Prophet:
„Was ist denn los mit dir?“ Er sagte: „Schlimmes, o Prophet! Sie
haben mich nicht eher freigelassen, bis ich Schlechtes über dich und
Gutes über ihre Götzen sagte.“ Der Prophet fragte ihn: „Wie ist
25 DR.ABDUR RAHMÁN AL-SHEHA
dein Herz?“ Er sagte: „Mein Herz findet Ruhe im Glauben.“ Da
sagte der Prophet: „Wenn sie es nochmal tun, dann tue es nochmal.“
So verhält es sich, wenn dem Muslim körperliches Leid zugefügt
wird, wie es Bilal (möge Allah Wohlgefallen an ihm haben)
widerfahren ist. So berichtet Abdullah ibn Mas’ud:
„Die ersten, die ihren Islam kundtaten, waren sieben: Der Prophet
(möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken)
Abu Bakr, ‘Ammar und seine Mutter, Sumaya, Suhaib, Bilal und al-
Miqdad. Den Propheten (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm
Wohlergehen schenken) hat Allah durch seinen Onkel Abu Talib
beschützt, und Abu Bakr hat Allah durch seinen Stamm beschützt.
Die übrigen wurden von den Ungläubigen festgenommen und
regelrecht gefoltert und gequält, bis sie aussprachen, was von
ihnen verlangt wurde. Außer Bilal, der sich selbst, Allahs wegen,
gleichgültig war, und seinem Stamm gleichgültig war. Sie nahmen
ihn und überließen ihn den Kleinen, die ihn in den Straßen Mekkas
hin und her schleppten und er sagte dabei: Ahad, Ahad (Einer, Einer).
Zur Toleranz und Nachsicht der Religion im Bereich der Aqida
gehört auch, dass der Islam die menschliche Seele von der Anbetung
anderer, außer Allah, befreit hat. Dies erfolgte durch die Verankerung
des Iman in der Seele des Muslims, dass er keine Angst zu haben
braucht, außer vor Allah und dass es keinen außer Allah gibt, der
Nutzen oder Schaden bringen kann. So sagt Allah, der Hocherhabene:
(Und sie haben sich außer Ihm Götter genommen, die nichts
erschaffen, während sie (selbst) erschaffen werden, und die sich
selbst weder Schaden noch Nutzen zu bringen vermögen und
die weder über Tod noch über Leben noch über Auferstehung
verfügen.) (Qur`an 25:3)
Somit liegt alles in den Händen Gottes und niemand, wer er auch sein
mag, kann nutzen oder schaden, geben oder nehmen, außer mit dem
Willen Allahs und nur das, was Er vorgeschrieben hat. So sagt Allah,
der Hocherhabene: